Nach der Improvisation
Katinka Corts
18. dicembre 2024
Das Fachspital Sune-Egge wurde von Schneider Studer Primas entworfen. Der Neubau befindet sich neben dem Kirchenzentrum Affoltern. Ein vorgelagerter Gewerberiegel schirmt die Patientenbereiche von der Wehntalerstrasse ab. (Foto: Katinka Corts)
Lange diente ein Zürcher Wohnhaus dem Sozialwerk Pfarrer Sieber als Krankenhaus. Das Provisorium hat nun ein Ende, denn auf dem Glaubten-Areal konnte die Stiftung gemeinsam mit der reformierten Kirche Zürich einen Neubau realisieren.
Pfarrer Sieber ist eine Institution in Zürich: 1927 in Horgen geboren, studierte er Theologie und kam im Alter von 29 Jahren ins Amt. Er richtete nicht nur im Jahrhundertwinter von 1963 für Obdachlose in einem alten Bunker Unterkünfte ein, ab Ende der 1980er-Jahre kümmerte er sich auch um die Drogensüchtigen auf dem Platzspitz. 1988 gründete er eine Stiftung. Zu deren vielfältigem Angebot gehört auch der Sune-Egge an der Konradstrasse 62, ein Fachspital für Sozialmedizin, untergebracht in einem fünfstöckigen Wohnhaus, das die Stiftung sehr günstig mieten konnte.
Doch wieso kam darin ein Krankenhaus unter? Der Ort in der Nähe des Platzspitz und des Hauptbahnhofs war logistisch ideal. Allerdings war das Gebäude selbst nie als Versorgungsort dieser Art konzipiert. Ein kleiner Aufzug, in den kein Krankenbett passt, verbindet die Etagen. Die Wohnungstüren sind zu eng für Rollstühle und die Gänge zu schmal, um aneinander vorbeizufahren. Doch immerhin war es ein Ort, an dem Obdachlose genesen konnten. Selbstverständlich werden alle Menschen in der Schweiz im Spital versorgt und behandelt, meist jedoch wird man mit dem Auftrag zur Selbstfürsorge entlassen, soll sich ausruhen und auf Hygiene achten. Doch wie soll das gehen, wenn man keinen geschützten Ort zum Schlafen und Wohnen hat? Genau an diesem Punkt setzte die Hilfe der Sune-Egge an: Sie brachte drogensüchtige Obdachlose unter und versorgte sie medizinisch – bald anerkannt als offizielles kantonales Fachspital mit 28 Betten und einer ambulanten Praxis. Es dauerte jedoch nicht lange, bis der Sune-Egge mit Kapazitätsproblemen kämpfte.
Vor etwa zehn Jahren kamen schliesslich Christoph Zingg, der damalige Geschäftsführer des Sozialwerks Pfarrer Sieber, und Erich Schwengeler, dazumal Kirchgemeindepräsident von Zürich-Affoltern, ins Gespräch. Wie könnten beide Institutionen zusammenarbeiten und den Bedürftigen angemessenere Räume anbieten? Auch wenn das kleine Spital an der Konradstrasse zentral lag, überwogen die räumlichen Nachteile. Ein Neubau an einem weiter ausserhalb liegenden Standort würde viele neue Möglichkeiten verschaffen.
Im Erdgeschoss des neuen Spitalbaus befindet sich das Restaurant mit Zugang zum geschützten Innenhof. (Foto: Katinka Corts)
Die Architekten gestalteten die Gänge des Spitals mit einfachen Sitznischen für spontane, informelle Gespräche. (Foto: Katinka Corts)
Das Kirchenzentrum Affoltern, Anfang der 1970er-Jahre nach Plänen der Architekten Esther und Rudolf Guyer gebaut, kam ins Spiel. Am östlichen Ende des länglichen Grundstücks befindet sich das Kirchgemeindezentrum, an das sich nach Westen der Kirchhof mit Kirche und Turm anschliessen. Daneben gab es eine freie Fläche, die sich für eine Bebauung anbot. Und so lobten das Sieberwerk und die reformierte Kirche Zürich im Jahr 2018 einen Wettbewerb für ein neu zu bauendes Spital an diesem Ort aus.
Das Zürcher Architekturbüro Schneider Studer Primas konnte mit dem Vorschlag überzeugen, einen vierteiligen Neubau mit zentralem Fachspital, einem separaten Isolationsbereich, einem höheren Wohnhaus sowie einem Gewerberiegel an der Wehntalerstrasse zu planen. Städtebaulich spielt der Entwurf mit der arealstypischen baulichen Vielfalt und Höhenstaffelung. Genauso wie Vorplatz und Hof die Kirche Glaubten ergänzen, gehören zwei kleinere Höfe zu Wohntrakt und Fachspital. In letzterem befindet sich seit kurzem auch die Skulptur «Café Central», ein Kunst-am-Bau-Projekt von Florian Germann. Die Zwischenräume der etwa drei Meter hohen Skulptur sollen sich mit der Zeit zum Lebensraum für Vögel und Insekten entwickeln und den Hof – zusammen mit der Begrünung – beleben.
Zwischen dem ersten Spatenstich und der Eröffnung vergingen knapp vier Jahre, nun ist das neue Spital eingeweiht und wird genutzt. Mit dem Neubau habe das Kirchenzentrum einen Freund auf Augenhöhe bekommen, so Architekt und Kirchenpfleger Michael Hauser bei der Eröffnung. Natürlich wird der Neubau anfangs noch ein Fremdkörper sein, Kirche und Sieberwerk sind jedoch sehr bemüht, die Vernetzung und Integration voranzutreiben. Der Skepsis der Anwohnenden begegnen sie mit gemeinsamen Veranstaltungen und Gottesdiensten, und auch die Angebote im neuen Gewerberiegel an der Wehntalerstrasse werden zur Annahme und zum Aufbau sozialer Beziehungen beitragen.
So wie Pfarrer Sieber das Haus an der Konradstrasse als ein Modell dafür betrachtete, wie unsere Gesellschaft eigentlich sein müsste, ist es auch das neue Spital Sune-Egge: Nicht die Trennung zwischen den Hilfsbedürftigen und den Pflegenden beziehungsweise Versorgenden steht im Mittelpunkt. Das ganze Projekt soll vielmehr vom Gedanken getragen sein, miteinander füreinander da zu sein.
Schema zur Nutzungsverteilung auf dem Glaubten-Areal: Mittig befindet sich die Kirche, rechts angrenzend Kirchhof und Gemeindezentrum. Für den neuen Spitalbau wurde die westliche Fläche genutzt. (© Schneider Studer Primas Architekten)
Frau Schneider, vergleicht man das vorherige provisorische Spital mit dem nun auf dem Glaubten-Areal entstandenen, ist der Unterschied beachtlich. Wie ist es Ihnen gelungen, die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten, aber auch des Personals zu erkennen?
Es ist das erste Mal überhaupt, dass die Sieber Stiftung für sich selbst neu baut. Die Menschen dort sind Meister im Improvisieren und im Anpassen von Dingen an ihre Bedürfnisse. Viel schwerer fiel es ihnen, ihre eigenen Wünsche zu formulieren. Zwar gab es ein Raumprogramm, dieses wurde aber in Teilen immer wieder infrage gestellt. Natürlich war das nicht immer einfach für uns, aber wir haben die Stiftungsmitglieder auch verstanden. Sie kommen aus einer anderen Kultur von «in Beschlag nehmen». Die Konradstrasse war ein Wohnhaus, das überhaupt nicht als Spital geeignet ist. Aber dennoch haben sie es geschafft, darin sehr lange eines zu betreiben.
Sie hatten also mit einer ungewohnten, aber äusserst dankbaren Bauherrschaft zu tun.
Das ist so, ja. Friederike Rass, die Gesamtleiterin, war schon vor einer Weile mit Klienten im Haus. Diese freuten sich sehr und riefen: «Wir ziehen ins Dolder ein!» Es ist aus Zürcher Sicht kein luxuriöser Bau, weil wir wirklich sehr sparsam mit dem Geld umgehen mussten. Aber es ist ein helles, grosszügiges Gebäude, was so völlig neu ist für die Klienten.
Was hat Sie am ganzen Projekt und Bauvorhaben begeistert?
Von Anfang an, auch schon bei der Ausschreibung, wusste ich, für wen dieses Haus ist. Ich komme aus Zürich, habe meine Jugend hier verbracht. In meinen frühen Erwachsenenjahren waren mir Platzspitz und Letten sehr präsent, ein prägender Eindruck von der Stadt. Es war sehr emotional und zugleich eine starke Motivation, für diese bedürftigen Menschen planen zu können.
Patientinnen und Patienten aus der Drogenszene können nicht so «eingetaktet» werden, wie Nichtkonsumierende. Sie haben Ängste und Aggressionen, Pflege und Sozialarbeit fordert das enorm. Um zu wissen, wie sich die Aufgabe genau gestaltet, mussten Sie die bisherige Einrichtung an der Konradstrasse kennenlernen. Wie war das?
Als der Wettbewerb entschieden war, wollten wir den Alltag in der Sune-Egge erleben. Uns wurde schnell bewusst, dass man in diesem Kontext eigentlich keinen «normalen» Spitalalltag planen und keine Termine verabreden kann. Vielmehr ergeben sich Situationen, in denen man jemanden anspricht oder man von einem Klienten angesprochen wird – meist spontan. Ein verrückt-chaotischer Alltag, bei dem kein Tag dem anderen gleicht.
Also sprachen wir mit dem Personal und den Patienten, waren bei der Pflege, den Ärztinnen, den Sozialarbeitern, in der Kunsttherapie und beim Seelsorger. Mit der Zeit begriffen wir, worauf es ankommt und wie die Abläufe funktionieren. Deshalb gibt es jetzt im Neubau zum Beispiel immer wieder Sitzbänke im Gang, die für kurze, informelle Gespräche ideal sind.
Im Haus werden nicht nur Kranke behandelt, hier wohnen auch Suchtkranke dauerhaft in einem weiteren Gebäudeteil. Spitalräume müssen für einen kurzen Aufenthalt vielleicht nicht absolut wohnlich sein, das eigene Zimmer jedoch sollte es. Wie haben Sie das mit dem sehr kleinen Budget realisieren können?
Im Büro hatten wir solch eine Aufgabe noch nie. Obwohl wir die Kosten niedrig halten mussten, wollten wir unbedingt eine wohnliche Atmosphäre für die Bewohner schaffen – und übrigens auch für die Patienten des Fachspitals. Diese musste zudem mit sehr robusten Materialien gestaltet werden, da es in diesem Spital auch mal turbulent zugeht. Im Gebäude haben wir deshalb die Sichtbetonoberflächen mit unterschiedlichen Farbstreifen preiswert «geschmückt», mit geschlämmten Mauerwerkswänden kombiniert und Tür- und Fensterelemente farblich davon abgesetzt. Keine Wand in den Zimmern ist weiss, wodurch die Räume auch ohne persönliche Einrichtung eine Wohnlichkeit erhalten. Darüber hinaus ist auch die Ergänzung mit Sitzbänken, Fenstersimsen sowie Fenster- und Türzargen in Eiche sehr wichtig für die Raumstimmung.
Grundriss Erdgeschoss mit Bestand (1 Hof, 2 Kirche Glaubten, 3 Kirchgemeindehaus) und Neubau (4 Hof Fachspital, 5 Hof Wohntrakt Schärme, 6 Fachspital, 7 Wohntrakt Schärme, 8 Gewerbe) (© Schneider Studer Primas Architekten)
Genauso wie Vorplatz und Hof die Kirche Glaubten ergänzen, gehören zwei kleinere Höfe zu Wohntrakt und Fachspital. (© Schneider Studer Primas Architekten)
Schnitt durch das nördlich gelegene Wohngebäude und den Gewerberiegel an der Wehntalerstrasse (© Schneider Studer Primas Architekten)
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