Der Abriss der Heimat

Katinka Corts
7. novembre 2024
Martin Maleschka in der Mensa Leipzig vor einer Wandgestaltung mit Pressglas von Rudolf Sitte (Foto: d.nietze-fotografie)

«Ich stecke den Finger in die Wunde, zeige den Städten, wo sie aktiv werden können», sagt Martin Maleschka bei unserem Treffen in Chemnitz, der Europäischen Kulturhauptstadt 2025. «Wenn die Bevölkerung erst einmal anhand von kleineren Interventionen erlebt hat, wie man Strukturen wieder aktivieren kann, fordert sie von der Stadt auch, dranzubleiben.» Als Architekt arbeitet der in Eisenhüttenstadt lebende Maleschka nicht, obwohl er das Fach studiert hat. Er bezeichnet sich selbst als Baukulturvermittler und engagiert sich für den Erhalt und die Wertschätzung der ostmodernen Bauten, die zuhauf vorhanden sind und auch Jahrzehnte nach der politischen Wiedervereinigung Deutschlands teilweise noch brachliegen und verfallen.

Als während seines Studiums in Cottbus sein Kindheitsviertel, ein Plattenbaugebiet in Eisenhüttenstadt, abgerissen wurde, prägte ihn das sehr. Er erkannte den Widerspruch zwischen dem damals im Studium vermittelten Drang, neue Gebäude zu bauen, und dem ständigen Verlust bestehender Strukturen. Eisenhüttenstadt war die erste sozialistische Planstadt auf deutschem Boden und ist heute Deutschlands grösstes zusammenhängendes Flächendenkmal. Vier Jahrzehnte DDR-Bautätigkeit lassen sich dort nachvollziehen. Unter dem Titel »Stadtumbau Ost» wurden dennoch bis 2015 mehr als 6200 Wohnungen abgerissen, die Familie musste deshalb dreimal umziehen. «Uns hat das sehr erschüttert», erinnert sich Maleschka. «Es war damals eine Entwertung von allem: Nicht nur die Arbeit war nichts mehr wert, auch der eigene Betrieb, die Stadt, die Ideologie, die Gesellschaft, die Kultur. Alles, was uns ausmachte, schien plötzlich nichts mehr wert zu sein.»

Saal im Staatsratsgebäude am Berliner Schlossplatz mit Blick zum Humboldtforum, 2021 (Foto: Martin Maleschka)
Die ehemalige SED-Parteischule in Erfurt wurde gemäss denkmalpflegerischen Auflagen umgenutzt. Heute befindet sich dort die Zolldirektion. (Foto: Martin Maleschka)

Dass der unreflektierte Abriss vieler Gebäude auch mit einer massiven Entwertung der DDR-Baukultur nach 1990 einherging, verletzte ihn genauso wie jene, die dort aufgewachsen sind und mit ihren Familien über Jahrzehnte gelebt haben. Sowohl seine Grossväter als auch sein Vater waren im Bauwesen tätig, die Grossväter als technische Zeichner, der Vater als Plattenwerker. Diese «Trilogie», wie Maleschka es nennt, prägt sein heutiges Schaffen: «Der eine hat’s gezeichnet, der andere hat’s gebaut und ich dokumentiere den Niedergang.»

Statt neue Gebäude zu entwerfen, widmete sich Maleschka bereits zu Studienzeiten lieber der Aufgabe, die oft negative Wahrnehmung der DDR-Architektur zu ändern und deren Qualitäten aufzuzeigen. Insbesondere jüngere Generationen will er für die sie umgebende Baukultur sensibilisieren und nutzt dafür ganz verschiedene Kanäle – von Ausstellungen und Büchern bis hin zu Social Media. Dafür findet seine Arbeit zunehmend Anerkennung, wie nun die Verleihung des Deutschen Denkmalpflegepreises zeigt.

Die Fassade der Mensa im Bildungszentrum von Halle-Neustadt zierte früher ein Wandbild des Malers und Grafikers Josep Renau. (Foto: Martin Maleschka)
2022 wurden die «Wohnwürfel» im Kastanienhof Eisenhüttenstadt, der sogenannte Wohnkomplex VII, abgerissen. (Foto: Martin Maleschka)
Dem früheren Interhotel der Stadt Halle droht der Abriss. Die Aufnahme ist 2022 entstanden. (Foto: Martin Maleschka)
Gebäude und Kunst erhalten

Zehntausende Fotografien sind heute in seinem Bilderarchiv zu finden. Bereits nach seinem Studienabschluss 2013 konnte er einen Teil seiner Arbeiten bei einer Ausstellung in London zeigen. Die 2000 Kleinformat-Fotografien zum ostdeutschen Bauen hätten die Leute begeistert, denn jeder und jede hatte bislang die DDR-Architektur mit grauen Plattenbauten gleichgesetzt. Doch insbesondere die baubezogene Kunst der DDR sticht durch ihre Farbvielfalt hervor, die damals beauftragten Künstler verwendeten verschiedene Materialien und waren sehr experimentierfreudig. 

Ob Arbeiten des Malers Georgios Wlachopulos, der zahlreiche Wandbilder an öffentlichen Gebäuden schuf, oder die Holzarbeiten von Lutz Sommer für den Kultur-Speisesaal des Landmaschinenbaus in Torgau: Martin Maleschka hat unzählige Kunstwerke fotografiert, um ihren kunstgeschichtlichen Wert zu dokumentieren und auf das Schaffen der Künstler aufmerksam zu machen. Wenn einzelne Plattenbauten oder ganze Siedlungen abgerissen werden, verschwindet mit ihnen die Kunst, die die Gebäude nicht nur als Dekoration ziert, sondern auch Ausdruck der Zeit und der Lebenswelt der Menschen war. Dieses Bild von einer lebendigen, expressiven und vielfältigen Kunstlandschaft in der DDR ist kaum im Bewusstsein jener präsent, die über den Abriss der Gebäude bestimmen. Umso wichtiger ist, dass Maleschka das Bewusstsein schärft – ob durch die Revitalisierung eines verlassenen Jugendclubs mittels Kunstinterventionen und Workshops in Eisenhüttenstadt oder durch die diesjährige Summerschool im Hotel Lunik.

Die Welt der Garagen

Neben der Kunst-am-Bau hat es ihm seit Jahren auch eine Besonderheit der DDR angetan: Die vom Wohnen separierte Welt der privat genutzten Garagen. Um die 30'000 gibt es davon allein in Chemnitz, zu DDR-Zeiten waren sie kollektiv und in Eigenleistung gebaut worden. Wie aus dem Bild vieler osteuropäischer Städte sind die langen, eingeschossigen Zeilen nicht aus den einstigen DDR-Städten wegzudenken. In ihnen wurde nicht nur das Auto geparkt, hier wurde Handwerk betrieben und gemeinsam am Fahrzeug geschraubt. Vielfach lagerten dort auch grosse Ersatzteilsammlungen. Diesem Geist sind mehrere thematische Arbeiten der Vergangenheit sowie das aktuelle Garagenprojekt Maleschkas treu, in dem es um gemeinsame Kunstaktionen und Feste und zugleich auch um die Wertschätzung dieser Gemeinschaftsorte geht. 

Als Luise Rellensmann und Jens Casper 2021 das Buch «Garagenmanifest» herausgaben, steuerte Maleschka einen Fotoessay mit Bildern quer durch die Republik bei. Vor zwei Jahren war seine Ausstellung «Garagenland» in der Architekturgalerie Berlin zu sehen. Unter dem Titel «3000 Garagen», eines der Kernprojekte des Chemnitzer Kulturhauptstadtjahres, beschäftigt sich Maleschka sowohl mit diesen Mikroarchitekturen als auch mit der Dokumentation und Ausstellung von Garagengegenständen. Er und weitere Künstlerinnen und Künstler beziehen dafür die Garagenbesitzer aktiv in das Projekt ein und machen sie zu Kuratoren ihrer eigenen Geschichte.

Garagen in Johanngeorgenstadt, 2019 (Foto: Martin Maleschka)
Garagenanlage in Wriezen, 2019 (Foto: Martin Maleschka)
Verborgenen Geschichten eine Bühne geben

Maleschka hatte zunächst jedoch sehr um das Vertrauen der angefragten Garagenbesitzer kämpfen müssen: Dass jemand ihre Werkstätten und Sammlungen katalogisieren und Teile davon leihen und ausstellen möchte, hätte zunächst Skepsis ausgelöst, erinnert er sich. Mittlerweile sei jedoch eine üppige Sammlung zusammengekommen, die zum Beispiel in der Kunstinstallation «Ersatzteillager» im Chemnitzer Museum für sächsische Fahrzeuge wiederverwendet wird. Die Ausstellung zeigt, wie durch Kunst und Vermittlung ein neues Bewusstsein für die Bedeutung des Alltäglichen und des scheinbar Wertlosen geschaffen werden kann. Denn auch heute werden die Garagen intensiv genutzt, sind aber zugleich gefährdet: Oftmals gehören sie den Nutzern, während das Grundstück im Besitz der Stadt oder privater Investoren ist. Das birgt Konfliktpotenzial, wenn es um den Abriss von Garagen zugunsten neuer Bauprojekte geht. 

Was andere nicht sehen, hat Maleschka längst fotografiert, so scheint es. Seine starke persönliche und emotionale Verbindung zum Thema und seine authentische Art helfen ihm, in Kontakt zu den Menschen und ihren Geschichten zu kommen. Indem er sie für die oft übersehene Schönheit und Bedeutung der Ostmoderne sensibilisiert, leistet er einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte und zur Wertschätzung des baukulturellen Erbes der DDR. So wird Maleschka auch zukünftig weiter innovative Ansätze suchen, die das ermöglichen: «Mir geht es ja gerade darum, dass all diese Bauten und Kunstwerke ins Rampenlicht gelangen.» Die Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und ihre Geschichten und Emotionen zu respektieren, ist sicher ein guter Weg, gegenseitige Wertschätzung auch über die Landesgrenzen hinaus zu leben.

Foyer des Hotels Lunik in Eisenhüttenstadt, 2023 (Foto: Martin Maleschka)
Das Rathaus von Eisenhüttenstadt wurde 1958 gebaut. Die Aufnahme zeigt es im Jahr 2018. (Foto: Martin Maleschka)

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