Aus der Tiefe der Zeit
Susanna Koeberle
29. maggio 2019
Stollentruhe, 1505, Herkunft: Tschlin, Chur, Rätisches Museum (Foto © Florio Puenter)
Das Bündner Kunstmuseum zeigt anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Villa Planta als Museum eine aussergewöhnliche Ausstellung – ein Gemeinschaftswerk von Peter Zumthor, Stephan Kunz und Florio Puenter.
Dass Zeit und Raum relative Grössen sind, lehrte uns bereits Albert Einstein. Und manchmal wird das auch im Alltag erfahrbar. Zum Beispiel im Museum. Wenn der Besucherin eine Figur oder ein Gegenstand, die vor mehreren hundert Jahren entstanden sind, so plastisch erscheinen, dass sie auf einen Schlag in der Gegenwart landen – Zeit und Raum überbrücken. Solches zu erleben, ist zurzeit im Bündner Kunstmuseum möglich. Die Ausstellung «Aus der Tiefe der Zeit» entstand anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Villa Planta, die seit 1919 als Museum dient. Stephan Kunz, Co-Direktor des Museums, fragte in diesem Zusammenhang Peter Zumthor an, der in den 1980er-Jahren an der Renovation der Villa beteiligt war. Zuerst kam die Idee auf, das ehemalige Wohnhaus für die Ausstellung wieder zu seiner damaligen Funktion zurückzuführen und es mit Möbel zu bestücken. Doch diese wurde wieder verworfen. Zumthor schlug daraufhin vor, Kunst zu zeigen, die vor der Reformation entstanden war.
Schnabelkanne nach etruskischem Vorbild, 5./4. Jh. v. Chr., Fundort: Castaneda, Grab 53, Chur, Rätisches Museum (Foto © Florio Puenter)
Das Zurückgreifen auf diese Zeit hat zweierlei Gründe. Zum einen entstand Graubünden als Zusammenschluss der «Drei Bünde» erst im 15. Jahrhundert, zum anderen ist dies auch eine Epoche, in welcher der Kunstbegriff sich wandelte. Damit steht auch die Frage im Raum, was überhaupt gute Kunst ist. Überhaupt, was Kunst ist. Kann eine Truhe Kunst sein? In Anbetracht der Meisterschaft, mit der solche Artefakte ausgeführt sind, ist diese Frage durchaus berechtigt. Dies gilt auch für Schmuck, Skulpturen oder Gegenstände, auf die Besucher*innen in den Räumen der Villa treffen. Spannend dabei ist, dass wir keine physischen Objekte zu sehen bekommen, sondern Abbilder davon. Aber was für Abbilder! Die Fotos von Florio Puenter, der diese Gegenstände in Museen oder Kirchen besucht und abgelichtet hat, sind wieder Kunstwerke für sich. Alle Objekte wurden vor einem schwarzen Hintergrund fotografiert. Eine weitere Besonderheit: Die Fotografien zeigen alle Werke in Originalgrösse. Diese Tatsache sowie die relativ tiefe Hängung im Raum unterstützen das unmittelbare Erlebnis beim Betrachten dieser Bilder. Auch die Entrückung von der materiellen Realität der Objekte verstärkt paradoxerweise ihre Wirkung. Sie kommen durch Puenters Fotografien gleichsam auf doppelte Weise aus der Tiefe der Zeit: Sie treten aus dem Dunkeln des Hintergrunds sowie aus der zeitlichen Kluft hervor ins Hier und Jetzt.
Balkenfragment mit einem Drachen, der sich in seinen Rücken verbeisst, 775/790, Müstair, Kloster St. Johann. (Foto © Florio Puenter)
Wie aber wählt man überhaupt solche Objekte aus? Wie erzählt man Geschichte, beziehungsweise Realität durch Gegenstände? Können Gegenstände dies leisten? Greift man auf die Etymologie des Wortes Realität zurück, eröffnet sich eine neue Sichtweise. Das Wort geht auf das lateinische «realitas» zurück, das wiederum «res» (Sache) enthält. Es ist deswegen gar nicht so abwegig, Geschichte und Kultur über Gegenstände fassbar zu machen. Denn sie sagen manchmal mehr aus als Worte. Sie sprechen eine eigene Sprache. Das scheint auch Peter Zumthor so zu sehen. In seinem Essay, der im Katalog zur Ausstellung erschien, berichtet er über seine Faszination für diese Objekte. Über die autorenlosen Kunstwerke, die von ungeheurer Könnerschaft zeugen. Und auch von den weit verzweigten Kulturräumen, die schon damals bis in entfernte Gegenden reichten. Er beschreibt die Magie und Aura, welche diese Artefakte für ihn ausstrahlen. Zusammen mit Stephan Kunz und Florio Puenter hat Peter Zumthor eine Auswahl getroffen, die verschiedene Aspekte berücksichtigend schlussendlich einem einfachen Kriterium folgte: Die Werke mussten alle drei Beteiligten ansprechen. Auf diese Weise ist ein Panoptikum entstanden, das eine Zeitspanne von der Bronzezeit bis ins späte Mittelalter umfasst. Und uns auch heute noch die Augen öffnen kann für die unendliche Vielfalt «unserer» Kultur.
Aus der Tiefe der Zeit
Herausgegeben von Stephan Kunz, Florio Puenter und Peter Zumthor.
Fotografien von Florio Puenter
170 x 240 mm
132 Pagine
55 Illustrations
Broschiert
ISBN 9783858816467
Scheidegger & Spiess
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