Wohin mit dem Verkehr?
Manuel Pestalozzi
14. febbraio 2019
Nutzungsvielfalt bei mehrgeschossigen Kreisverkehren. Bild: mutation.ch
Verkehrsplanung gehört nur marginal zum Kompetenzbereich von Architektinnen und Architekten. Umso besser, dass Claude Schelling in einem Buch konkrete Vorschläge zur Diskussion stellt.
Der Verkehr hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Gestaltung von Städten und Siedlungsräumen entscheidend geprägt. Anfangs der 1970er-Jahre erfolgte eine Wende: War das Schlagwort vormals «Verkehrsgerechtigkeit», wurde ein substanzieller Teil der Öffentlichkeit und Fachwelt zu engagierten Fürsprechern der «Menschengerechtigkeit». Viele wehrten sich fortan gegen Strassenbauprojekte und standen für die Verkehrsberuhigung und -verhinderung ein. Die Zahl der Motorfahrzeuge nahm seither trotzdem kontinuierlich zu und folglich auch der Platzbedarf für ihren Fortbewegungs- und Abstellraum.
Es gibt Anzeichen dafür, dass Architektinnen und Architekten sich heute mit dem Thema nicht besonders gerne auseinandersetzen: An Veranstaltungen zu Verkehrsfragen erhält man den Eindruck, dass sie sich kulturell in ganz anderen Sphären bewegen als Verkehrsplanerinnen und -planer. Ein gutes Beispiel für die Entfremdung des Berufsstandes von realitätsnahen Verkehrsfragen sind die Essays des emeritierten ETH-Professors für Städtebau, Vittorio Magnago Lampugnani, zum Stadtraum. Mit kulturhistorischen Referenzen weibelt er in Feuilletonsektionen der gehobenen Tagespresse für die Zähmung des Biestes Verkehr. Für ihn scheint das rein eine Frage der Bildung und mithin der Qualität zu sein. Fragen betreffend Versorgung und individueller Mobilitätsbedürfnisse werden bei diesen Umerziehungsbemühungen in der Regel geflissentlich verdrängt. So, als seien sie keine Architekturaufgaben.
Zweigeschossige Erschliessung in der Gartensiedlung Furttal in Zürich-Affoltern. Bild: Claude Schelling
Der emotional-wissenschaftliche AnsatzWer dieser Darstellung des heutigen Verhältnisses zwischen Architektur und Verkehrsplanung zustimmt, wird Claude Schelling als erfreuliche Ausnahme begrüssen. Seit Jahren macht er in der Presse seine Ideen zum Umgang mit dem Raumbedarf von Verkehrswegen und -mitteln bekannt, mit renommierten Projekten wie der Gartensiedlung Furttal (1980) in Zürich-Affoltern im Rücken. Nun hat Schelling seine «Mission» in Buchform publiziert – bezeichnenderweise nicht bei einer Herausgeber, der sich durch künstlerisch wertvolle Bildbände profiliert, sondern bei der vergleichsweise profanen vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich, die primär technisch-wissenschaftliche Publikationen im Programm führt.
Claude Schellings Buch «Begegnungsraum Strasse – Städtebauliche Überlegungen zum öffentlichen Raum» ist denn auch wie ein Lehrmittel aufgebaut und gestaltet: übersichtlich und gut strukturiert. Zuerst wird das Problem erläutert, dann folgen realisierte und vorgeschlagene Lösungen. Dies sind komplett durchdachte und auch durchgerechnete Projekte – immer gibt es auch das Kapitel «Kosten». Der Ansatz ist somit pragmatisch und auf das erwiesen Machbare ausgerichtet. Gleichzeitig handelt es sich aber auch um ein emotionales Buch, das mitunter den Charakter eines Pamphlets hat, konkrete politische Stossrichtungen vertritt und die Leserinnen und Leser überzeugen möchte. Claude Schelling outet sich im Buch als Kind einer frühen Protestphase gegen das Primat des Verkehrs bei der Planung. Wie er im Vorwort schreibt, kennt er aus eigener Erfahrung das Problem der Verkehrsbelästigung am Wohnort. Und er stösst sich am wachsenden Landverbrauch des Verkehrs. Allerdings: «Mobilität ist nicht schlecht», schreibt er in seinem Vorwort, «sie ist eine Qualität unserer Gesellschaft». Sein Streben gilt der Vereinbarkeit der Mobilität mit der allgemeinen Lebensqualität, die unter ihr leidet. Erreicht werden soll diese Quadratur des Kreises durch technisch-planerische Massnahmen. Dennoch ist der sprachliche Duktus des Buches ein sehr persönlicher. Der Tonfall ist warm, jener eines freundlichen, sympathischen Lehrers, der nicht mit seinem Wissensvorsprung auftrumpft, sondern seine Kenntnisse bescheiden weitergibt.
Öffentliche Räume in der (nicht vollständig realisierten) Gartensiedlung Furttal. Bild: Claude Schelling
Oben und untenEines der Rezepte Claude Schellings ist die zweigeschossige Erschliessung. Damit positioniert er sich als Advokat einer Trennung des motorisierten Verkehrs vom Bewegungs- und Aufenthaltsraum der Fussgängerinnen und Fussgänger. Diese Idee ist natürlich alles andere als neu, doch nach seinen Vorschlägen sollen nicht Tiefgaragen, sondern unterirdische Erschliessungsstrassen entstehen. Seit gut 50 Jahren experimentiert Claude Schelling mit Siedlungsstrassen im Untergrund mit beidseitiger Parkierung und darüber angeordnetem Fussgängerzugängen. Präsentiert wird diese recherche patiente im Buch anhand der Gartensiedlung Furttal in Zürich-Affoltern (1980) und der Siedlung Esplanade in La Chaux-de-Fonds (1995). Dieses Prinzip könnte nach Überzeugung des Autors auch in bestehenden Stadtquartieren Anwendung finden. Er spielt dies anhand des Zürcher Langstrassenquartiers durch: «Eingepackte» und relativ steile Innenrampen führen auf das unterirdische Niveau und aus ihm wieder empor. Zweiläufige Treppenanlagen im öffentlichen Raum stellen die fussläufigen Verbindungen zwischen den Ebenen her. Die unterirdischen Erschliessungen wären aus Sicherheitsgründen nur Befugten zugänglich.
Entwurf einer zweigeschossigen Erschliessung an der Hohlstrasse in Zürich. Bild: Architron/Hannes Henz
Zwei Rampen, drei Treppen: unterirdische Strasse beim Helvetiaplatz. Bild: Claude Schelling/ERZ
Über der AutobahnBei den Autobahnen schlägt Claude Schelling drei horziontale Grundebenen vor. Erneut taucht das Wort «Einpacken» auf, diesmal in Zusammenhang mit der Einhausung von Fahrbahnen, die unter freiem Himmel verlaufen. Eine Studie «Mehrfachnutzung von Nationalstrassen» kommt, so erfährt man im Buch, zum Schluss, dass ein solches Vorgehen in der Schweiz an 38 Standorten möglich und sinnvoll wäre. Die Entwürfe des Autors sehen Quartiere vor, die entlang einer künstlichen Hügelkrete über dem Strassenbett verlaufen, also merklich höher liegen als das Umfeld. Auch bei diesen Studien gibt es die zweigeschossige Wohnstrasse – als zweite Tunnelebene und Freiraum über der Autobahn. Den architektonischen Reiz solcher Siedlungen sieht Claude Schelling in den sich ergebenden Niveauunterschieden – als natürliches Beispiel stellt er das (autobahnferne) Quartier Flon im Zentrum von Lausanne vor. Unter den verschiedenen städtebaulichen Studien findet sich die Autobahnüberbauung «Glatt» südlich von Wallisellen. «Auf einer Strecke von 1200 Metern können bis zu 1'600 Wohnungen für etwa 5'000 Menschen samt 80'000 Quadratmetern Dienstleistungs- und den anderen zum Wohnen zugehörigen Funktionen geschaffen werden», schreibt der Autor. Die Erschliessung für den motorisierten Verkehr würde von den schon bestehenden Brücken über die Autobahn erfolgen. Die Überlegungen reichen weit – so gibt es je ein Kapitel über die Nutzung von Regenwasser und der Tunnelwärme. Im Ausland gibt es schon gebaute Beispiele solcher bewohnbarer Einhausungen – Erwähnung findet etwa das Projekt «Die Schlange» in Berlin.
Siedlungen über der Autobahn am Nordrand von Zürich. Bild: Claude Schelling
Eine Sonderform der Einhausung, mit der sich Claude Schelling in seinem Buch auseinandersetzt, ist der Verkehrskreisel mit grossem Aussendurchmesser – 150 Meter oder mehr –, der über der Autobahn thront und auch die Verbindung zu ihr und zum Erschliessungstunnel der Überbauung herstellt. Bildhaft gemacht wird die Idee mit der Bearbeitung der Satellitenfoto einer bestehenden Autobahnkreuzung. Da sämtliche Hochbauvolumen begrünte Dächer haben, wirkt der Eingriff aus dieser Perspektive wie eine Renaturierung einst versiegelter Flächen.
Da sich Claude Schelling schon seit erheblicher Zeit mit den aufgeführten Fragestellungen auseinandersetzt, kennt er auch die Einwände gegen seine Vorschläge im Detail. Sieben von ihnen zählt er im Buch auf – sie sind planungsrechtlicher und letztlich politischer Natur. Das Werk endet mit einer längeren Verteidigungsschrift unter dem Titel «Fakten: die häufigsten Irrtümer klargestellt». Hier findet nochmals eine pragmatische Auseinandersetzung zu diversen Punkten in Pamphletform statt: Zitate von Zweifelnden werden mit «Richtig»- «Falsch»- sowie «Richtig und falsch»-Antworten gekontert. Der Autor ist seiner Sache sicher und glaubt, einen Beitrag zur Siedlungsraum im Sinne von Jane Jacobs oder Jan Gehl zu leisten.
Den verwöhnten, mit Informationen überfütterten Zeitgenossen muten die Ideen bisweilen etwas in die Jahre gekommen an an. Dies liegt vor allem an der postulierten Funktionsteilung und der strikten, kontrollierten Trennung horizontaler Ebenen. Den Verkehr in den Untergrund zu verlegen wirkt heute wie ein Verstecken oder Verbannen wenig angenehmer Begleiterscheinungen der Zivilisation an. Die im Buch präsentierten Rezepte schreiben eine Geschichte der Entflechtung fort, zu einem Zeitpunkt, an dem manche die Rückkehr zu einer stärkeren Verflechtung predigen oder auch umsetzen, wie beispielsweise die neue Tramlinie auf der Hardbrücke in Zürich belegt. Wenn man allerdings die aktuellen Strassenbauprojekte im Land anschaut, erkennt man schnell, dass die Beziehung zwischen Siedlungsraum und Verkehrsraum eine offene Frage ist und alle Vorschläge Aufmerksamkeit verdienen, vor allem dann, wenn sie so gründlich durchdacht sind wie jene in diesem Buch.
Claude Schelling
Begegnungsraum Strasse
Städtebauliche Überlegungen zum öffentlichen Raum
2018, 200 Seiten, 145 Abbildungen, durchgehend farbig
Format 20 x 27 cm, gebunden
CHF 48.00 / EUR 46.00 (D)
ISBN 978-3-7281-3899-6
auch als eBook erhältlich
vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich