Afghanische Lektionen

Manuel Pestalozzi
1. febbraio 2018
Andkhoy, sitzende Männer vor einem Haus. Bild: Annemarie Schwarzenbach/Schweizerische Nationalbibliothek NB

Annemarie Schwarzenbach war eine intelligente, aufmerksame Zeitzeugin und so etwas wie eine Stilikone, deren Präsenz auch über 70 Jahre nach ihrem Tod bis in die Gegenwart ausstrahlt. Die promovierte Historikerin aus begütertem Haus war enorm wissensdurstig und abenteuerlustig. Ausserdem besass sie ein feines Gespür für Anmut und Ästhetik. Dank ihrer gesellschaftlichen Position hatte sie in ihrem kurzen, über weite Strecken unglücklichen Leben Gelegenheit, als Reisejournalistin Teile der Welt zu bereisen, die für die Allgemeinheit unerreichbar waren und teilweise heute noch sind. Sie dokumentierte ihre Erfahrungen mit der Kamera und schrieb auch zahlreiche Berichte.
 
Der fotografische Nachlass ist einer der Schätze innerhalb der Sammlungen des Schweizerischen Literaturarchivs (SLA) der Nationalbibliothek. Mit Unterstützung des Vereins Memoriav zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturgutes konnten die beinahe 7'000 Fotografien Annemarie Schwarzenbachs digitalisiert und vom SLA in einer neuen Datenbank erschlossen werden. Auf einer interaktiven Karte lassen sich ihre Reiserouten durch Asien, Afrika und die Südstaaten der USA nachverfolgen. Das Bildmaterial steht unentgeltlich auf Wikimedia Commons zur Verfügung. Die Fotografien geben Einblick in Welten, die hier und jetzt zwar eine zeitliche und räumliche Distanz dokumentieren aber gleichzeitig mit eigenartiger Intensität eine Brücke in die Aktualität schlagen. So kann das Betrachten der Fotos zu neuen Erkenntnissen oder zur Bestätigung bestehender Ahnungen verhelfen, wie hier anhand einiger «afghanischer Lektionen» darzulegen versucht wird.

Herat, Stadtmauer. Am Fusse der Befestigungsanlage liegen vermutlich frische Lehmziegel. Bild: Annemarie Schwarzenbach/Schweizerische Nationalbibliothek NB

Lektion 1: Nimm, was es hat
Materialien für die Bausubstanz, die Annemarie Schwarzenbach in Afghanistan fotografierte, scheint immer aus der näheren Umgebung zu stammen. Massive Bereiche bestehen aus Lehm, vermutlich meistens luftgetrocknet und nicht gebrannt. Holzelemente sind relativ rar und spröde, Glasscheiben sieht man überhaupt nicht. Krumme Äste und Zweige dienen als Raumtrenner, riesige Ballen von struppigem Buschwerk als Schattenspender, das möglicherweise gleichzeitig Brennstoffvorrat ist.
 
Bei der Dauerhaftigkeit der Strukturen scheint es eine deutliche Abstufung zu geben. Was aus Stein und Erde ist, bestimmt das Layout der Siedlungen, ob es nun noch aktiv und intensiv genutzt wird oder am Zerfallen ist. Es ist Zeichen einer gemeinsamen, koordinierten Anstrengung. Die leichteren Strukturen, die auf dieser Basis errichtet sind, wirken oft improvisiert, temporär und wandelbar.

Istalif, zwei Männer sitzend auf einem Hausdach, dahinter Töpferwaren. Bild: Annemarie Schwarzenbach/Schweizerische Nationalbibliothek NB

Lektion 2: Kleider machen Städte
Es ist aus einer ästhetischen Warte wünschenswert, dass die Architektur und die Kleidung der Menschen, die sich in ihr aufhalten und bewegen, eine Übereinstimmung zeigen. Nicht immer ist in diesem Zusammenhang die Beziehung der Garderobe mit den Oberflächen der Stadtlandschaft klar oder offensichtlich. Die Schwarz-Weiss-Fotos von Annemarie Schwarzenbach suggerieren eine weitgehend farblose Architektur, die einen Kontrast bildet zum Blau des Himmels und den hellen, bisweilen vermeintlich bunten Textilien, die einerseits Menschen bekleiden aber auch in der Form von Teppichen oder Wandbehängen Räume schmücken können.
 
Die Lehre, die man hier ziehen kann, ist einerseits, dass eine allgemeine Kargheit mit wenigen Farben bunte Objekte als Bereicherung in Szene setzen. Andererseits weist sie auch auf Materialkontraste hin, welche durch eine zunehmende Vielfalt ihr Wirkung verlieren. Wie die Architektur  in unseren Breiten auf Adiletten oder elastisches, schimmerndes synthetisches Gewebe reagieren soll, ist bis heute nicht abschliessend geklärt.

Ghazni, eine Brücke über einen Fluss, im Vordergrund Männer mit Schafen. Bild: Annemarie Schwarzenbach/Schweizerische Nationalbibliothek NB

Lektion 3: Urban Minig forever
Die Städte, die Annemarie Schwarzenbach auf ihrer Reise fotografiert hat, sind von monumentalen Befestigungsanlagen umschlossen. Diese treten als riesige Materiallager in Erscheinung. Offenbar gab es nie einen Anlass, diese Mauern und Bollwerke zu schleifen, um einer Expansion des Siedlungsgebietes Raum zu verschaffen. Vielmehr scheint man sich bei diesen Ruinen zu bedienen, wenn es gilt, etwas Neues zu bauen. Zwar wirkt alles unfertig, entweder in Bau oder im Zerfall begriffen. Doch ist es nicht gerade das, was die Qualität einer Stadt ausmacht, dieses Unfertige, das verschieden Optionen offenlässt und auch eine kleinräumige Verschiebung und Umformung von Baumassen ermöglicht?
 
Die Massivität des Gebauten erscheint bei dieser Betrachtungsweise in einem neuen Licht. Vielleicht sollte es nicht immer die projektbezogene Ökonomie sein, welche die Dimensionierung von Bauteilen bestimmt, sondern das Potenzial, welche diese für ein noch unbekanntes Weiter- oder Umbauen birgt.

Ghazni, Männer beim Arbeiten an der Stadtmauer. Bild: Annemarie Schwarzenbach/Schweizerische Nationalbibliothek NB

Lektion 4: Es braucht Schwellen
Die Fotos von Annemarie Schwarzenbach wollen nicht mehr sein als Beobachtungen einer wachsamen Touristin auf der Durchreise. Sie hält mit ihren Aufnahmen respektvoll Distanz und will ganz offenbar nicht in der lokalen Bevölkerung aufgehen und deren Traditionen und Gewohnheiten ihre eigenen machen. Die Fotos repräsentieren somit die Sicht von der Strasse, die sich einer Fremden offenbaren. Umso stärker treten die Grenzen zwischen öffentlich und privat in Erscheinung. Die Bausubstanz zeigt sich einerseits in der Form geschlossener Körper, die undurchdringbar scheinen, andererseits als Nischen, die Einsicht gewähren aber eine oft unergründliche Tiefe haben.
 
Deutlich wird, dass es bei diesen Nischen Schwellen braucht. Und immer scheint es sie zu geben, auch wenn sie vielleicht nicht sofort sichtbar ist, diese Linie, die man eigentlich nur auf Einladung übertreten darf. Diesseits wird vielleicht Hausrat gelagert, ausgelüftet oder ins Sonnenlicht gestellt, jenseits herrscht eine Intimsphäre, die eine Aura des Schutzes und der eingeschränkten Betastbarkeit umgebt. Solche fühlbaren Grenzen sind in der aktuellen Architektur vielleicht wichtiger denn je.

Ghazni, Männer mit einem Knaben sitzend in einem Haus, davor ein Vogelkäfig und Teegeschirr. Bild: Annemarie Schwarzenbach/Schweizerische Nationalbibliothek NB

Afghanistan nach Schwarzenbach - und noch eine Lektion?
Seit der Reise von Annemarie Schwarzenbach nach Afghanistan sind fast 80 Jahre vergangen. Das Land sorgt seit Jahrzehnten fast im Tagesrhythmus für Nachrichten, die Entsetzen auslösen und Besorgnis erregend sind. Meistens handelt es sich um Schilderungen von blindwütigen Gewalttaten, aus denen die Sprengung der Buddhastatuen von Bamian (die Annemarie Schwarzenbach damals auch fotografierte) im März 2001 als besonders perfider Akt der Zerstörung herausragt.
 
Dem Menschen wohnen konstruktive und destruktive Kräfte inne. Sie äussern sich besonders markant und nachhaltig, wenn es um die Veränderung der Landschaft oder des gebauten Bestandes geht. Wo legt man Hand an, was lässt man in Ruhe fortbestehen und altern? Jede Kultur hat ihre eigenen Antworten auf diese Frage, die über sie Auskunft gibt. Annemarie Schwarzenbachs Fotos aus jenem heute so gepeinigten Teil der Erde dokumentieren primär Bausubstanz, die in ihrer Präsenz unfertig wirkt. Dies kann man heute als Plädoyer für eine Nichteinmischung interpretieren. Der Umgang mit Unfertigem, vielleicht nie Fertigem, ruft nach Toleranz, nach dem Erkennen der Massnahmen, die mit vertretbarem Aufwand nötig und möglich sind, und nach Zurückhaltung.

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