Tomatensauce drauf! Der lange Weg zur baukulturellen Allgemeinbildung
Ulf Meyer
16. settembre 2021
Foto: Elias Baumgarten
Der Verein Archijeunes lud vorige Woche zur Debatte über Baukulturvermittlung ins Zentrum Architektur Zürich ein. Unter den vorgestellten Projekten aus dem D-A-CH-Raum beeindruckte die Tiroler Kunst- und Architekturschule bilding besonders.
Baukultur umgibt und prägt uns als Spiegelbild unserer Zeit und Gesellschaft. Und die kleine Schweiz steht vor grossen Herausforderungen: Der Schutz der Landschaft vor Zersiedelung, der Ausbau der Infrastruktur, das Bevölkerungswachstum, aber auch Schrumpfungsprozesse und der Umgang mit dem Kulturerbe sind dringende Aufgaben. Die Vermittlung von Baukultur an Kinder und Jugendliche kennt viele Akteure, aber viele kennen die Akteure nicht. Der Verein Archijeunes lud deshalb Baukulturvermittler zu einem Treffen an das Zentrum Architektur in Zürich (ZAZ) ein, um der Frage nachzugehen, was eine baukulturelle Allgemeinbildung beinhalten soll und wie diese Inhalte vermittelt werden können. Das internationale Netzwerktreffen für den D-A-CH-Raum war live und auch als Livestream zu verfolgen (die Videos sind nach wie vor auf YouTube abrufbar). Das zweitägige Treffen bot eine einmalige Gelegenheit, sich über Forschungsarbeiten und neue Vermittlungsprojekte auszutauschen. Kathrin Siebert, die Gastgeberin der Veranstaltung, stellte zum Auftakt in ihrem Vortrag das Buch «Elemente einer baukulturellen Allgemeinbildung» vor. Es zeigt, wie Archijeunes das Thema definiert und angeht. Aus der Schweiz war nur eine weitere Referentin eingeladen: Noëlle von Wyl von der Pädagogischen Hochschule Schwyz, die in ihrem Beitrag «Kinder entdecken die lokale Baukultur» aufzeigte, welche erfolgreichen Modelle zur Vermittlung von Baukultur hierzulande bereits entwickelt wurden.
In der zweiten Session der Tagung, zu der drei Referentinnen aus Österreich eingeladen waren, zeigte sich, wie lebendig die Szene der Baukulturvermittlung in unserem östlichen Nachbarland ist, wo es seit einigen Jahren in jedem Bundesland ein Zentrum für Architektur gibt, das jeweils vorbildliche Arbeit leistet: Barbara Feller vom Verein bink (Initiative Baukulturvermittlung für junge Menschen) aus Wien hatte ihren Vortrag schlicht mit «Entwicklungen in Österreich» übertitelt; eine gehörige Portion Understatement, denn als Obfrau (Vorsitzende) ist sie eine der zentralen Figuren der Architekturvermittlung in der Alpenrepublik.
Marion Starzacher von der Pädagogischen Hochschule Steiermark in Graz untersuchte «Baukultur im Curriculum der Pädagogischen Hochschulen». Ihr geht es darum, dass Baukultur im Alltag, im Leben und im Beruf gelebt wird, denn, so ihr Credo, «Architektur wird von Menschen für Menschen gemacht».
Am beeindruckendsten war jedoch der Vortrag von Monika Abendstein von der Kunst- und Architekturschule bilding in Innsbruck. Dieses auf Eigeninitiative hin gegründete und gebaute «Schulhaus für Architektur» sei ein Freiraum zur Erforschung der Baukultur, sagte sie. Abendstein möchte mit ihrem Team eine «neue Generation so bilden, dass sie in der Lage ist, die Fehler, die frühere Generationen vor ihr gemacht haben, wieder zu korrigieren». Zusammen mit dem Tiroler Architekturzentrum aut (architektur und tirol), ebenfalls in Innsbruck beheimatet, soll Baukultur durch «das Tun, das Machen» vermittelt werden. Das von Niklas Nalbach und Studierenden des Instituts für experimentelle Architektur der Universität Innsbruck entworfene Holzhaus ist ein «Ort, der sich der Kreativität der Kinder verschrieben hat». Teile des Innsbrucker Stadtparks waren lange Zeit ein Ort mit geringer Aufenthaltsqualität, und als die Stadt sie als Bauplatz für die Schule anbot, ergriffen die Initiatoren ihre Chance. «Frequenz und Diversität der Passanten stimmten», erklärte Monika Abendstein in ihrem Referat. Die Tiroler würden bilding inzwischen wie ein baukulturelles Pendant zu einer Musikschule auffassen, freute sie sich. Zu einem Drittel kommen die Kinder und Jugendlichen, die die Architekturschule im Park besuchen, aus bildungsfernen oder Flüchtlingsfamilien. Abendstein ist es auch mit zu verdanken, dass es alle zwei Jahre ein Treffen der führenden Köpfe der österreichischen Baukulturvermittlung gibt. Eine gute baukulturelle Bildung kann ihrer Meinung nach nur erreicht werden, wenn Architekten, Pädagogen und auch Entscheidungsträger gemeinsam engagiert sind.
Am zweiten Tag des Symposiums sprachen drei Referentinnen aus Deutschland. Angela Million von der TU Berlin stellte in ihrem Vortrag zum Thema «Bildungsorte und Lernwelten der Baukultur» den Unterschied zwischen der formalen und informellen Vermittlung von Baukultur vor. In der Schule, aber auch bei der Mitbestimmung in der Nachbarschaft sind besondere Kompetenzen gefragt, die sie vermitteln will. Die baukulturelle Bildung und Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ist einer ihrer Forschungsschwerpunkte. Sie möchte «nicht nur Theorie, sondern die Teilhabe an kleinen Bauprojekten» fördern, um die Aufmerksamkeit für baukulturelle Themen zu steigern und den «Umgang mit Materialien und Werkzeugen und die Raumwahrnehmung ausserhalb des Klassenzimmers» zu schulen. Sie arbeitet mit ihrem Team übrigens «ohne das Wort Baukultur zu verwenden», das ihrer Meinung nach einer kritischen Revision bedarf. Sicherlich eine begründete Kritik, gibt es doch aktuell unzählige Definitionen des Begriffs und viele Institutionen und Akteure streiten sich um die Deutungshoheit.
Päivi Kataikko-Grigoleit von der TU Dortmund hat als Herausgeberin eines Handbuches zur baukulturellen Bildung und als Leiterin des von ihr mitinitiierten JAS-Zentrums (Jugend Architektur Stadt) in Essen eine Expertise für die «Phase 0» im Schulbau entwickelt und zusätzlich in den letzten Jahren mehr als 10000 Menschen mit ihrem Programm angesprochen. Mit einem Augenzwinkern erklärte sie ihr Erfolgsrezept: Brückenbau-Experimente mit Spaghetti würden besonders viel Spass machen, denn nach dem Modellbau müsse man kein teures Material wegwerfen, sondern einfach «Tomatensauce drauf giessen und alles verspeisen».
Ihre Kollegin Turit Fröbe, die mit einem Buch über Bausünden für Aufsehen gesorgt hat, untersucht die Architekturpolitik in Finnland, das als Mutterland der Architekturbildung gilt – eine etwas verklärte Perspektive, wie sich in ihrem Vortrag zeigte. An den Universitäten und Schulen sei das Thema dort flächendeckend in die Curricula integriert. Doch sind die Ansätze aus Finnland auf Deutschland übertragbar? Von einem kleinen, straff organisierten Zentralstaat auf ein Land mit ausgeprägtester föderaler Tradition, das bildungspolitischen einem Flickenteppich gleicht? In Finnland ist Architektur ungleich wichtiger für das Nation building, also die Entwicklung einer nationale Identität. Aber auch dort sei baukulturelle Bildung kein Selbstläufer, meinte Fröbe und fuhr fort, «wesentlich ist Unterstützung der Politik». Allerdings: Nach dem hervorragenden Abschneiden der nordeuropäischen Länder an den PISA-Bildungsstudien ebbten Euphorie und Engagement in Skandinavien etwas ab. «Die Implementierung ging nicht weiter», meinte Fröbe kritisch. Andererseits hat das finnische Bildungsministerium jüngst eine Beraterin für Architektur berufen: Tiina Valpola führt das Architecture Information Center, das als zentrale Anlaufstelle in Helsinki dient. Eine Professur aber, die sich gezielt mit baukultureller Bildung auseinandersetzt, oder eine Forschung zur Thematik gebe es in Finnland nicht. Die in den 1960er- und 1970er-Jahren starke Tradition der Environmental Education sei in den 1980er-Jahren zugunsten einer postmodernen Auffassung von Gestaltung zurückgedrängt worden. Davon erhole sich das finnische Bildungssystem noch immer.
Fröbe räumte in ihrem Vortrag mit Vorurteilen auf, entwarf aber auch neue Perspektiven: Wenn das neue Architektur- und Designmuseum in Helsinki dereinst eröffnet wird, soll es ein Center for Design Learning enthalten, in dem jüngere Generationen für Fragen der gebauten Umwelt sensibilisiert werden können. Das im Januar dieses Jahres erarbeitete Programm «Neue Architekturpolitik in Finnland» wird bald auf Deutsch und Englisch veröffentlicht. In Deutschland hingegen, wo selbst die Stiftung Baukultur in Potsdam das Thema Bildung erst spät entdeckt hat, sind schulische und ausserschulische Angebote bisher rar. Um langfristig nicht nur Kinder aus bildungsbürgerlichen Familien zu erreichen, «müssen zunächst die Lehrer gebildet werden», schlug Fröbe vor. Ihrer Meinung nach machen die Pandemie und Klimakrise darauf aufmerksam, wie wichtig die gebaute Umwelt ist und welch entscheidende Rolle die Gestaltung von Räumen, Orten und Architektur für unsere Lebensqualität spielt. In der Zukunft, so hofft Fröbe, wird sich baukulturelle Bildung einmal selbst überflüssig machen. Für den Moment aber gebe es ein starkes Bildungsbedürfnis, doch die Expertise fehle vielfach noch.
Baukultur soll, diesbezüglich herrschte während beider Tage grosse Einigkeit, Teil unserer Allgemeinbildung werden. Bereits in der Schule sollte die Vermittlung beginnen. Freilich bleibt bis dahin noch viel Arbeit. Doch ein guter Anfang ist gemacht. Und das internationale Treffen in Zürich hat den so wichtigen Austausch stimuliert, neue Impulse gebracht und vor allem ein Wir-Gefühl unter den Teilnehmenden gestiftet.
Archijeunes Netzwerktreffen 2021. Book of Abstracts
Archijeunes
PDF-Broschüre zum Gratisdownload
Purchase this book
Elemente einer baukulturellen Allgemeinbildung
Archijeunes (Hrsg.)
Mit Beiträgen von Ákos Moravánsky, Roland Reichenbach, Martin Tschanz, Martina Löw, Anne Brandl, Niklas Naehrig, Joseph Schwartz, Benjamin Dillenburger, Markus Koschenz, Gabi Dolff-Bonekämper, Elli Mosayebi, Laurent Stalder, Heiner Monheim, Kristina Orehounig, Claudia Moll und Vittorio Magnago Lampugnani
160 x 220 Millimeter
412 Pagine
268 Illustrations
Broschiert
ISBN 9783038602262
Park Books
Purchase this book
Eine ausführliche Besprechung des Buches «Elemente einer baukulturellen Allgemeinbildung»
Die österreichischen Architekturzentren leisten wichtige Arbeit bei der Baukulturvermittlung. Wir haben mit Verena Konrad, der Direktorin des Vorarlberger Architektur Instituts, über ihre Arbeit gesprochen.