Brutal vielfältig
Susanna Koeberle
18. gennaio 2024
Auch das Trigon-Ferienhaus von Heidi und Peter Wenger hat es auf die «Carte Brute Alpin» geschafft. (Foto: © Karin Bürki / Heartbrut)
Die «Carte Brute Alpin» ist die vierte Landkarte der Autorin und Fotografin Karin Bürki. Sie zeigt 40 Bauwerke, darunter das «House to Watch the Sunset» von Not Vital, die Caplutta Sogn Benedetg von Peter Zumthor und der Theaterturm auf dem Julierpass, der letztes Jahr abgebaut wurde.
Brutalistische Bauten sind längst nicht mehr als hässliche Monster verschrien. Man könnte sogar sagen, sie seien mittlerweile hip, allerdings wohl eher in der Architekt*innen-Bubble. Eine gewisse Skepsis gegenüber dem Baustil Brutalismus, dessen Name in den 1950-Jahren in England geprägt wurde, lässt sich in der allgemeinen Wahrnehmung bis heute beobachten, vor allem wenn es sich um grosse und sichtbare Betonbauten wie etwa Hochhäuser handelt. Das jedenfalls stellt Karin Bürki fest, die sich seit sieben Jahren intensiv mit solchen Bauten befasst. Die Fotografin und Autorin dokumentierte zunächst in England brutalistische Architektur, wobei sie weniger das Label Brutalismus an sich interessierte als vielmehr die rohe Schönheit und die Patina des Materials Beton. Und dieses besitzt ja schon eine längere Geschichte. Später konzentrierte sich Bürki auf die Schweiz, schliesslich ist das Land nicht arm an Sichtbetonbauten – und schönen noch dazu.
Mehr als nur Beton: die Capanna Corno Gries von Silvano Caccia (Foto: © Karin Bürki / Heartbrut)
Auf diese vielgestaltige Schönheit will sie ein breites und bewusst auch jüngeres Publikum aufmerksam machen. 2019 gründete sie die Plattform «Heartbrut». Unter diesem Namen gibt sie die Landkarten «Carte Brute» heraus, wird als Expertin für Talks und Spaziergänge angefragt und erreicht auf ihrer Instagram-Seite – die letztes Jahr gehackt wurde – eine grosse Fangemeinde. Die «harten und schroffen, aber zugleich vulnerablen» Bauwerke verdienen ihrer Meinung nach durchaus mehr Bewunderung und Aufmerksamkeit. Sie sei fasziniert von der «unverblümten Ehrlichkeit» und dem «harten Alterungsprozess» dieser Bauten, sagt sie im Gespräch. In ihren «Carte Brute»-Druckerzeugnissen mischt sie jeweils historische Trouvaillen oder Ikonen mit zeitgenössischen Bauwerken, das ist auch bei ihrem neusten Produkt, der «Carte Brute Alpin», der Fall. Auch was die Typologie der 40 darin porträtierten Objekte betrifft, ist ihr ein möglichst breiter Mix wichtig: Es befinden sich darunter neben Sakral-, Wohn-, Kultur- und Bildungsbauwerken auch Infrastrukturbauten wie Brücken und Energiebauten; sogar drei Kunstwerke haben es in die Sammlung geschafft. Der grafische Auftritt reflektiert diese Vielfalt, denn die faltbare Karte im DIN-A1-Posterformat gleicht einem Architektur-Wimmelbild.
Die Karte ist ein buntes Architektur-Wimmelbild. Auf der Rückseite ist der Julierturm gross abgebildet. (Foto: © Heartbrut)
Karin Bürki bezeichnet sich als «betonpositiv». (Foto: © Heartbrut)
Auf den möglichen Grund für die ungebrochene Beliebtheit des Materials Beton in der zeitgenössischen Architektur angesprochen, das trotz offensichtlichen Klimakiller-Argumenten auch heutzutage häufig eingesetzt wird, nennt sie den Kontrast zur entmaterialisierten Digitalwelt und ihren glatten Oberflächen. Ihr ginge es aber nicht darum, eine unökologische Architektur oder «testosteronschwangeren Betonporno» zu zelebrieren, diese Haltung sei definitiv vorbei, sagt sie dezidiert. Dass sie «betonpositiv» sei, hänge mit der Ausdruckskraft und Kompromisslosigkeit dieser Bauwerke zusammen. Sie betrachtet sie also nicht mit kritischem Blick, sondern möchte den identitätsstiftenden und poetischen Charakter dieser Architektur hervorheben. Man könne ältere Bauwerke nicht rückwirkend einfach «canceln», weil sie nicht ins aktuelle Narrativ passen würden, findet Bürki. Dennoch scheint dieses sogenannte «Narrativ» – das notabene nicht nur eine Berechtigung hat, sondern auch eine gewisse Dringlichkeit – seine Spuren hinterlassen zu haben, integriert sie in der aktuellen «Carte Brute» doch auch Bauten aus anderen Materialien als Beton wie Holz oder Stein. Der «Brute»-Gedanke hängt also nicht zwingend mit dem Werkstoff Beton zusammen, sondern eher mit einem bestimmten Zugang zur Materialität und zur Architektur als solcher. Sie erwähnt im Gespräch die Pioniere Alison und Peter Smithson, die durchaus auch an ethischen Aspekten interessiert waren. Zudem gibt es heute auch Alternativen zum klassischen Beton, die weniger klimaschädlich sind. Auch die Quantität und die Herkunft des Betons spielen bei diesen Überlegungen eine Rolle.
Ist die Caplutta Sogn Benedetg (1988) von Peter Zumthor brutalistisch? (Foto: © Karin Bürki / Heartbrut)
Die alpine Landschaft, auf die Bürki in ihrer vierten Map fokussiert, tritt dabei mit den Bauten häufig in einen fast mimetischen Dialog. Berge und Beton seien ein «perfekter Match», sagt sie. Nicht nur das Territorium im eigentlichen Wortsinn betreffend waren die Erkundungen in den Bergen neu für sie; gerade als fachfremde Beobachterin habe sie sich als staunende Touristin im eigenen Lande gefühlt. Die Fotografin und Autorin versteht ihre Arbeit auf keinen Fall als Architekturfotografie, sondern verortet diese eher in einem Feld, das lustvoll zwischen unterschiedlichen Genres pendelt. In ihrem Output gehe es um Rebellion gegen enge Normen, Stereotypen und Labels und dies tue sie mit Härte, Herz und Humor, wie sie pointiert formuliert.
Dokumentation ist für sie nicht primär ein Thema, obschon nach wie vor einige dieser Bauten vom Abbruch bedroht sind – was ja auch aus ökologischer Sicht eine Katastrophe ist. Mit ihren Kommunikationstools wirft die Heartbrut-Gründerin einen unkonventionellen und subjektiven Blick auf Architektur als Kulturgut. Der Begriff Brutalismus bringe in den Köpfen vieler Menschen mitunter immer noch bedrohliche Schwarz-Weiss-Szenerien hervor, findet Bürki. Bei ihr ist die Wirkung dieser Bauten offensichtlich eine vollkommen andere, das merkt man auch, wenn man mit ihr über ihre «Schützlinge» spricht. Mit der Wahl der Farbfotografie widersetzt sie sich bewusst den Klischees einer trostlosen und zugleich erhabenen Architektur, wie sie in vielen Fotografien bis heute propagiert wird. Die Bauwerke zeigen sich bei ihr von einer zugänglichen, freundlichen und spielerischen Seite.