Der aufrechte Pragmatiker – zum Tod von Meinhard von Gerkan
Falk Jaeger
2. décembre 2022
Foto: Wilfried Dechau
Meinhard von Gerkan war Deutschlands bedeutendster Architekt seiner Generation. Nicht nur seine Bauten brachten ihm grosse Wertschätzung ein, sondern auch sein couragiertes Engagement für die Baukultur und die Anliegen der Architektenschaft.
Die gesamte deutsche Architektenschaft drückte Meinhard von Gerkan die Daumen, als er gegen Hartmut Mehdorn und die Deutsche Bahn vor Gericht zog. Denn nur er mit seinem Grossbüro gmp im Rücken konnte sich einen solchen Musterprozess erlauben. Der damalige Bahnchef (und spätere Chef des Flughafens BER) hatte die gläserne Halle des Berliner Hauptbahnhofs 110 Meter kürzer als geplant ausführen und die Räume im Untergeschoss mit einer banalen Flachdecke ausbauen lassen. Er glaubte nämlich, vor der Fussball-Weltmeisterschaft 2006 Zeit und Geld sparen zu können (beides erwies sich als fataler Irrtum). Meinhard von Gerkan sah das Urheberrecht verletzt – und gewann. Den mit 60 Millionen Euro taxierten Weiterbau der Halle konnte er allerdings nicht durchsetzen. Eine Abfindung in Millionenhöhe steckte er in die gmp-Stiftung. Denn er hatte in Hamburg die Academy for Architectural Culture (aac) gegründet, eine gemeinnützige Bildungseinrichtung auf Stipendienbasis für Architekturstudierende vor allem aus dem Ausland.
Berlins Hauptbahnhof (Foto: Marcus Bredt)
Die Episode zeigt zweierlei: Meinhard von Gerkan war streitbar und er engagierte sich mit dem Gewicht und der Kompetenz des wichtigsten deutschen Architekturbüros im Rücken intensiv für die Sache der Architektur und der Architekturschaffenden. Dabei zählte der Doyen der deutschen Architektenschaft nicht zu den «Stararchitekten» unter den Baukünstlern, denn mit Glamour und Starallüren wollte er nicht aufwarten.
Begonnen hatte seine erfolgreiche Karriere und die seines ein Jahr jüngeren Partners Volkwin Marg in Berlin, denn ihr Erstlingswerk gleich nach dem Studium war 1965 der Flughafen Tegel, ein Bau, der für seine gestalterischen Qualitäten und die sensationell kurzen Wege – nur 40 Meter vom Taxi bis zur Flugzeugtür – in bester Erinnerung bleibt.
Die Erfolgsgeschichte von Meinhard von Gerkan und Volkwin Marg begann mit dem Flughafen Berlin Tegel. Das Foto zeigt die Anlage im Jahr 2020. (Foto: Marcus Bredt)
Ihr Büro entwickelte sich rasch zum routinierten Wettbewerbsteam, das mit meist ein wenig eleganter erscheinenden Entwürfen und pragmatisch-perfekten Grundrissen trotz bodenständig-moderner Grundhaltung häufig die Nase vorn hatte. Von Gerkan spielte dabei neben dem etwas konstruktivistischer entwerfenden Volkwin Marg den rationalistischen Part.
Meinhard von Gerkan, im Januar 1935 im lettischen Riga geboren, verlor früh seine Eltern und wuchs bei einer Pfarrersfamilie in der Lüneburger Heide und zur Gymnasialzeit bei Anthroposophen in Hamburg auf. Der TU Braunschweig, wo er Architektur studierte, blieb er ein Leben lang verbunden und lehrte dort mehr als ein Vierteljahrhundert bis 2002 Gebäudelehre und Entwerfen. Mehrere Universitäten im In- und Ausland trugen ihm die Ehrendoktorwürde an, unter anderem die Universität Marburg den Dr. theol. E.h. für seine Kirchenbauten.
Klaus Nickels, Volkwin Marg und Meinhard von Gerkan (von links nach rechts) an der Eröffnung des Flughafens Tegel im Jahr 1974 (Foto © Stark Otto)
Aber von Gerkan war auch ein politischer Mensch. 1989 gelang es ihm, eine gmp-Werkausstellung in Dresden zu organisieren, die eine Woche vor dem Fall der Mauer eröffnete. Kurz darauf organisierte er den «West-östlichen Architekten-Workshop zum Gesamtkunstwerk Dresden». Die Stadt blieb im Blickfeld: Kürzlich erst befasste sich die Klasse seiner aac mit der inneren Organisation des Residenzschlosses. Ähnlich engagierte er sich 1998 im Anschluss an den gewonnenen Wettbewerb «Bukarest 2000», als er einen Workshop für Braunschweiger und Bukarester Studierende initiierte, um Ideentransfer und persönliche Beziehungen zu fördern. Derlei Aktivitäten, für die die meisten Kollegen keine Zeit zu haben glauben, kündeten von seiner humanistisch begründeten Überzeugung, dass die Arbeit des Architekten mehr ist als das Auftürmen möglichst viel umbauten Raumes mit möglichst geringem Aufwand. Über «Die Verantwortung des Architekten», so eines seiner zahlreichen Bücher, hat sich von Gerkan immer Gedanken gemacht. Im Interesse der Baukultur meldete er sich stets vehement zu Wort.
Universiade Sports Center, Shenzhen (Foto © Christian Gahl)
Seine schmerzlichste Niederlage erlebte von Gerkan mit dem Rausschmiss aus dem Projekt des Berliner Flughafens BER. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) hatte nach der geplatzten Eröffnung 2011 fälschlicherweise die Architekten verantwortlich gemacht und kurzerhand alle Planer entlassen – mit den bekannten milliardenschweren Folgen. Von Gerkan veröffentlichte eine Streitschrift und schaffte es, sein Architekturbüro aus der Schusslinie zu bringen. Denn gmp war für die Misere nicht verantwortlich, und die eigentliche Architektur des BER war 2011 bereits fertiggestellt. Seitdem wird sie von Flughafenplanern aus aller Welt wegen der neuartigen Organisation der Gates und des inneren Erschliessungssystems besucht und studiert.
Dass von Gerkan Flughafen konnte, hatte er unter anderem schon in Hamburg und Stuttgart bewiesen. Inzwischen hat das grösste deutsche Architekturbüro mit Filialen in Berlin und Aachen sowie Niederlassungen in Peking, Shanghai, Shenzhen und Hanoi mit insgesamt 600 Mitarbeitenden nahezu alle Bauaufgaben im Portfolio, die sich denken lassen, von der Villa bis zur Grosssiedlung, vom Labor bis zum Industriebetrieb, Kirchen und Museen, Fussball-WM-Stadien und Bäder, Stadthallen und Messegelände. Anfangs traten die beiden Gründungspartner von gmp als Urheber gemeinsam auf, doch seit vielen Jahren ist es bei gmp Usus, die Urheberschaft jeweils zuzuschreiben, und so kann man denn die Handschriften von Gerkans und Margs unterscheiden. Was die Bautypen betrifft, hatten sie sich über die Zeit etwas spezialisiert. So ist Volkwin Marg zum Beispiel mehrheitlich für die Stadien und Messebauten verantwortlich.
Maritime Museum, Lingang New City (Foto © Marcus Bredt)
Die erstaunliche Erfolgsgeschichte von gmp in China ist von Gerkans Verdienst. Sie begann 2000 mit der deutschen Botschaftsschule in Peking. Gleichzeitig machten ihn eine Werkausstellung und der Wettbewerbsgewinn der Messe Nanning unter Chinas Investoren schlagartig bekannt.
Anders als viele westliche Architekten, deren China-Engagement scheiterte, erkannte von Gerkan rasch, dass er vor Ort ein schlagkräftiges Büro gründen musste – mit in Hamburg in gmp-Standards geschulten chinesischen Mitarbeitenden und mit dem mit den örtlichen Gepflogenheiten vertrauten späteren Partner Wu Wei, der die Netzwerke knüpft und für das Vertragswesen zuständig ist.
Dabei lag dem aufrechten, pragmatischen, nicht unbedingt allzeit diplomatisch auftretenden von Gerkan die chinesische Art der Kommunikation und Verhandlungsführung wirklich nicht. Als das von gmp geplante Nationalmuseum in Peking – das grösste Museum der Welt – 2011 eröffnet wurde, hielt der Architekt in seiner Tischrede beim Galadinner mit seiner politischen Meinung zur Verhaftung des Künstlers Ai Weiwei nicht hinterm Berg, ein No-Go eigentlich. Die Dolmetscherin vermied es jedoch, seine Ausführungen wortwörtlich zu übersetzen, und so blieb die den Chinesen so wichtige Harmonie gewahrt.
Dass ihm das Projekt Flughafen BER entrissen wurde, war die schmerzlichste Niederlage in von Gerkans Karriere. (Foto © Marcus Bredt)
Vier Opernhäuser, mehrere Stadien, Wolkenkratzer und ganze Hochhauscluster, Museen, Rathäuser, Messegelände und Bahnhöfe – über 170 Grossprojekte sind es, die das Büro gmp ab 1999 in China meist unter der Federführung von Gerkans realisieren konnte, und nebenbei noch die Nationalversammlung, ein Kongresszentrum und das Hanoi Museum in der Hauptstadt Vietnams. Viele der dortigen Bauten wären in Europa bekannte Wahrzeichen, doch wer kennt hierzulande schon den faszinierenden Hauptbahnhof von Tianjin, die hinreissende Oper in Qingdao, das 1000-Island-Lake-Empfangsgebäude in Hangzhou oder das signifikante Hanoi Museum? Bis zuletzt aktiv, ist der bedeutendste deutsche Architekt seiner Generation am vergangenen Mittwoch im Alter von 87 Jahren in Hamburg im Kreise seiner Angehörigen verstorben.
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