Sasso San Gottardo
Jenny Keller
18. avril 2013
Aktuelle Karte der Pässe mit Wintersperre. Grafik: Viasuisse
In den eindrücklichen Stollen und Felskavernen der ehemaligen Gotthardfestung werden die Herausforderungen im Umgang mit Ressourcen atmosphärisch thematisiert. Es geht dabei um Wasser, Klima, Mobilität, Energie und Sicherheit. Bald hat die Themenwelt Sasso San Gottardo wieder geöffnet.
Die Schweizer Berge sind neben der Schokolade, den Uhren und dem Bankgeheimnis weltweit bekannt und von einem, bis auf Letzteres, unantastbaren Mythos umgeben. Diese Berge besitzen ein einmaliges und unvorstellbares Innenleben, das lange Zeit nur den (wehrpflichtigen) Männern des Landes bekannt war, die wiederum einer strengen Geheimhaltungspflicht unterstellt waren: Während des Zweiten Weltkrieges höhlte das Schweizer Militär beinahe den ganzen Alpenraum aus, um Artilleriefestungen, Spitäler, ja sogar geheime Flugplätze – so das Gerücht – vor dem Feind zu verstecken.
Sicherheit. Eine der Themenwelten von Sasso San Gottardo.
Die Gefahr ist gebannt
Im grössten Artilleriewerk der Gotthardregion, der 1941 eingerichteten Festung «Sasso da Pigna», absolvierten bis noch vor rund zehn Jahren unzählige schweigsame Soldaten ihren Militärdienst, danach wurde sie aus der Geheimhaltung entlassen. Die Themenwelt «Sasso San Gottardo» hat im Sommer 2012 ihre Tore geöffnet, und der ehemals getarnte Eingang in den Stollen bildet nun den Auftakt in eine kurzweilige Dauerausstellung im «gefühlsmässigen Mittelpunkt» des Landes – wie der Tessiner Staatsrat Norman Gobbi den Gotthard zur Ausstellungseröffnung nannte. Nur fünf Gehminuten vom Hospiz entfernt (Miller Maranta) und rund einen Kilometer oberhalb der Tunnelröhren taucht man nun ein in eine andere Welt. Bereits nach wenigen Metern wird es kühl, dunkel und feucht.
Martin Immenhauser kennt den ausgehöhlten Berg, die langen finsteren Gänge und Kavernen wie kein anderer; er war der letzte Kommandant des Artilleriewerks und wollte nicht, dass der knapp 1,8 km lange Stollen fortan ein dunkles Dasein fristet oder bloss zu einem weiteren Festungsmuseum degradiert wird. Mit dem letzten Kommandanten der Gotthard-Brigade, Alfred Markwalder, und dem Luzerner Künstler Jean Odermatt bildete er 1999 ein Team mit dem Ziel, die Festung für eine Neuentdeckung der Region zu nutzen. Das Projekt Sasso San Gottardo wurde mit finanzieller Unterstützung von Wirtschaftspartnern und der öffentlichen Hand im Auftrag einer eigens gegründeten Stiftung realisiert; insgesamt sind so 12,5 Mio. Schweizerfranken zusammengekommen.
Dieser Berg birgt eine unterirdische Parallelwelt. Alle Bilder: jk
Der Berg als Inspirationsquelle
Für die Umsetzung der Ausstellung wurde das Büro Holzer Kobler Architekturen herangezogen. Die Züricher Architekten mit einem grossen Portfolio an Ausstellungen im In- und Ausland haben zusammen mit der Kuratorin und ehemaligem Mitglied der Landesausstellung EXPO.02 Lisa Humbert-Droz das Konzept für die Ausstellung entwickelt. In fünf Räumen werden die Themen Wasser, Klima, Mobilität und Lebensraum, Energie sowie Sicherheit atmosphärisch in Szene gesetzt. Ausserdem funkeln riesige Bergkristalle in einem eigenen Raum.
Holzer Kobler sehen im Gotthard einen Mythos mit vielen Bedeutungen für die Schweiz: Er ist ein Ort, der Norden und Süden verbindet und so Grenzen überwinde, ein Symbol für den Aufbruch in die Moderne, für technischen Fortschritt und Ingenieurskunst. Hier zeigten sich aber auch des Fortschritts Grenzen – in kilometerlangen Staus und in der Veränderung des Alpenraums durch den Menschen. Daran knüpft Holzer Koblers Konzept für die Themenwelt im ehemaligen Stollen an.
Neben der Ausstellungsarchitektur mussten, wie so oft bei einem Umbau, v. a. auch sicherheits- und feuertechnische Einbauten sowie Stromleitungen und weitere unsichtbare, aber kostenintensive Massnahmen getroffen werden, um das Innere des Berges für die breite Öffentlichkeit begehbar zu machen. Auch die Sprengungen des soliden Ortbetons stellten eine Herausforderung dar, wie Tristan Kobler erklärt. Die Druckwellen hätten nicht nur für den zu sprengenden Teil Gefahr bedeutet, sondern sich auch auf andere Bereiche schädlich auswirken können.
Filmausschnitt im Ausstellungsbereich Mobilität.
Heiraten und Fahrradfahren
Wo einst ein zweistöckiges Lazarett in eine Kaverne einbetoniert worden war, befindet sich nach den Sprengungen beispielsweise eine riesige Halle. Schallschluckende Elemente unter dem Gitterrost am Boden sorgen dafür, dass die Höhle auch als Bankettraum vermietet werden kann. Vielleicht möchte hier einst ein Bergsteiger- oder Höhlenforscherpaar seine Hochzeit feiern. Auf alle anderen könnte das kühle Klima und die Tatsache, dass man sich mitten in einem Berg befindet, ungemütlich wirken. Als Station innerhalb der Themenwelt behandelt man hier die Mobilität, was durch einen Zusammenschnitt aus unzähligen rollenden Filmsequenzen, die auf den Fels projiziert werden, vermittelt wird.
In den anderen Kavernen blubbert und blinkt, klingt und donnert es. Der Lerneffekt ist vielleicht kleiner als der Showeffekt, trotzdem oder gerade deswegen lohnt sich ein Besuch mit der ganzen Familie oder ausländischen Gästen, in warmer Kleidung sowie festen Schuhen. Die Räumlichkeiten sind faszinierend – man befindet sich in einem ausgehölten Berg! – die Ausstellung ist unterhaltsam und animiert die Besucher zum Mitmachen: In der Kaverne, wo die Energie Thema ist, kann der Besucher auf einem sogenannten Fixie, einem Fahrrad mit nur einem Gang und reduzierter Ästhetik als Inbegriff des urbanen Vorwärtskommens, testen, wie viel Strom er mit seiner eigenen Muskelleistung zu produzieren imstande ist. Dieser Bereich befindet sich in der Kammer der ehemaligen Tanks. Die technischen Einbauten blieben nahezu vollständig erhalten und erzählen ganz ohne Unterstützung ihre eigene Geschichte. Trotz der neuen Interventionen bleibt die Vergangenheit spürbar, Holzer Kobler haben den Bestand am Leben erhalten und das Vorhandene mit aktuellen Informationen angereichert. So sind die Beschriftungen zu den einzelnen Kavernen in signal-pinken Lettern auf die Felswand gesprüht, wo gleichzeitig ein altes Telefon mit Wählscheiben an eine Welt erinnert, die noch nicht lange zurückliegt, aber ewig lange vergangen scheint.
Die Stollenwände als Palimpsest.
Wie lange dauert eine Dauerausstellung?
Alle sieben Jahre wird wohl eine Überarbeitung der Themenwelt stattfinden, meint Tristan Kobler. Gewisse Bereiche seien jedoch bewusst atmosphärisch und somit zeitlos angelegt worden. So geht man zum Beispiel in der «Wasser»-Höhle auf einem Rost, der mit einer feinen Wasserschicht bedeckt ist, was für andere Besucher die Illusion ergibt, als würde man tatsächlich über das Wasser gehen. In einem Zyklus werden auch hier Projektionen an die Felswand geworfen, die bei den Besuchern jedoch mangels Tiefgründigkeit wie Wassertropfen auf einer beschichteten Jacke abperlen dürften.
Die zehn Gebote der Nachhaltigkeit von Holzer Kobler.
In der zentralen Halle der Themenwelt haben Holzer Kobler auf zehn Tafeln aus Corten-Stahl ihre eigene Definition des mittlerweile etwas abgenutzten Begriffs der Nachhaltigkeit formuliert, natürlich in den drei Landessprachen, plus Englisch. Davor ist ein Modell des Stollensystems zu sehen, das die 7550 m2 im Berg besser begreifbar macht. Auch weil alte Festungen nutzlos geworden sind, wurde das Thema Sicherheit in die virtuelle Welt übertragen. Laserstrahlen am Boden transformieren diesen Themenbereich in einen vermeintlichen Hochsicherheitstrakt, einen Tresorraum, wie man ihn aus Filmen kennt; dazu gibt es Informationen zur Sicherheit im Internet.
Danach können die Besucher ihren Rundgang in der ehemaligen Festung fortsetzen, wo die Zeit eingefroren scheint. Die Räume sind so hergerichtet, also ob sich die Soldaten, die vor noch nicht langer Zeit hier ihren Militärdienst verbracht haben, nur gerade in einer Pause befänden. Da liegt Der Blick von 1995 neben einer Dose Bier und den Artillerieberechnungen. In den Schlaftrakten sind die militärgrünen Schlafsäcke ordentlich gefaltet, und die Zahnbürsten stehen in Reih und Glied im Waschraum. Wer hingegen jetzt schon friert oder weniger Zeit einberechnet hat, kann sich auf dem langen Korridor wieder in Richtung Tageslicht bewegen und bei der Kaffeebar noch eine schöne Glasflasche mit Bügelverschluss erstehen, die mit Quellwasser aus dem Gotthard aufgefüllt wird. Das Schweizer Trinkwasser kann tatsächlich überall gewonnen und getrunken werden, das ist kein Mythos, sondern eine erfrischende Tatsache, die, wenn wir unseren Ressourcen Sorge tragen, hoffentlich noch lange Bestand haben wird.