Für einmal «ganz Ohr»

Manuel Pestalozzi
23. mai 2019
Das Cover des Buches stellt die akustische Emission wie einen Krankheitserreger dar, der eingedämmt werden muss. Die Vorlage stammt aus «Die neue Architektur» (1940) von Alfred Roth. (Coverbild: gta Verlag)
Im Schatten der Aufmerksamkeit

Manche Bücher vermögen den Fluss der Gedanken in Gang bringen, noch ehe man sie überhaupt öffnet. Man gestatte mir deshalb diese Einführung: Es sind mir keine blinden Architekt*innen bekannt. Sie dürften sehr rar sein. Eigentlich ist das schade: Die Konzentration auf das optische Raumempfinden im Entwurfsprozess könnte durch ihren Beitrag in anregender, bereichernder Weise relativiert werden. Denn sie reagieren besonders empfindlich auf akustische Immissionen und orientieren sich an diesen. Die meisten Berufskolleg*innen hingegen behandeln die Akustik wohl eher als Angelegenheit für Expert*innen, die ihr Projekt in einer relativ späten Planungsphase ergänzen oder optimieren. Es ist auffällig, dass raumakustische Meisterleistungen meistens eigene Autor*innen haben. Die Konzertsäle des KKL in Luzern oder der Elbphilharmonie in Hamburg zeigen dies exemplarisch.

Unsere Beziehung zu Schallimmissionen ist komplex und ausgesprochen emotional. Biologisch sind wir vermutlich darauf getrimmt, diese Einwirkungen sehr spontan als Warn- oder Lockrufe wahrzunehmen. Die Sprache liegt als rationale, abstrakte Vermittlerin zwischen diesen gegensätzlichen Reaktionspolen. Die Architektur vermag durch ihre Form, ihre Struktur und die Oberflächenbeschaffenheit akustische Wellen zu verstärken oder zu dämpfen und ganz generell zu lenken. Wenn dies gezielt geschieht, so geht es in den allermeisten Fällen darum, Irritationen zu vermeiden. Unvergesslich ist mir ein Interview, das ich vor Jahren mit einem Experten für Bauakustik eines renommierten und auf diese spezialisierten Büros führte. Auf meine Frage nach hoher akustischen Qualität erwartete ich – vielleicht etwas naiv – einen schwärmerischen Exkurs über Dinge wie «Ambiente» und «Klima». Die Antwort aber war kurz, flach und schön doppelsinnig: «Hören wir nichts, dann ist es gut.» Keine Reklamationen, Aufgabe erfüllt.

Diese Raum-Schallversuche aus den frühen 1930er-Jahren werden im Buch gezeigt. (Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv)
Das Werden einer Wissenschaft

Irritationen standen auch am Anfang der Raumakustik als Wissenschaft. Konkret: ein halliges Auditorium in Harvard. Als Reaktion erarbeitete ein Physiker um 1900 eine mathematische Formel für die Berechnung der Nachhallzeit. Damit war ein neues technisches Fachgebiet geboren. Die Akustik eines Raumes wurde berechenbar. Spezialist*innen experimentierten und kalkulierten, es entstanden feste Werte und Grössen, welche einen bedeutenden Einfluss auf die Architektur des 20. Jahrhunderts ausübten.

Kultur- und architekturhistorisch wurde der Geschichte der wissenschaftlichen Raumakustik bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Sabine von Fischer bringt mit ihrem Buch «Das akustische Argument. Wissenschaft und Hörerfahrung in der Architektur des 20. Jahrhunderts» Licht ins Dunkel und widmet sich diesem wenig beachteten Aspekt baukultureller Entwicklung. Die Autorin und promovierte Architektin darf sich mit Fug und Recht einer Pioniertat rühmen. Hinter ihrem umfangreichen Werk stehen eine mehr als zehnjährige internationale Forschungstätigkeit und die Dissertation «Hellhörige Häuser. Akustik als Funktion der Architektur, 1920–1970». Das vorliegende Buch behandelt schwerpunktmässig die Zeitperiode von 1929 bis 1969. 1929 wurde die Acoustical Society of America (ASA) gegründet. Im gleichen Jahr hielt der erste an einer Schweizer Hochschule forschende und lehrende Akustiker Franz Max Osswald, einer der Hauptprotagonisten des Buches, an der ETH Zürich seine Antrittsrede. 1969 publizierte der amerikanische Stadtplaner Michael Southworth eine «soundmap» seiner audiovisuellen Versuche im Stadtraum, die gewissermassen den Schlusspunkt des Buches bildet. Dazwischen liegen zahlreiche Rück- und Ausblicke in die Entwicklungen der Akustik als eigene akademische Disziplin und als in der Gestaltung von Architektur und Stadt prägende Bedingung.

Die Fachwelt tastete sich auch in Zürich – wie hier beim Kongresshaus – in Etappen an das Thema Akustik heran. (Foto: gta Archiv/ETH Zürich, Nachlass Haefeli Moser Steiger)
Von der Geschichte zum Argument

Sabine von Fischer schreibt gut und unterhaltsam. Und sie hat die grosse Vielfalt ihrer Fundstücke und Erkenntnisse in griffige Hauptkapitel gegliedert. Diese setzten sich mit verschiedenen Aspekten auseinander, erfassen jedes für sich die gesamte Zeitperiode und lassen sich als separate Teilwerke lesen. Der Buchtitel ist sehr gut gewählt, denn er baut bereits Spannung auf und setzt den Denkapparat, wie der erste Abschnitt dieser Rezension zeigen soll, sogleich in Bewegung. Stimmt doch: Akustik erscheint beim Bauen tatsächlich in erster Linie als Argument und nicht als Element.

Mit feinem Sinn für Humor führt die Autorin ihre Leser*innen durch Labore und Versuchsanordnungen vergangener Zeiten. Oft bemühte man sich darum, den Schall und den Umgang mit ihm nicht nur mess-, sondern auch sichtbar zu machen. Im Kapitel «Isolierung» sind die Bedeutung der Privatsphäre und bauakustische Herausforderungen im Zusammenhang mit neuen Konstruktionsweisen – etwa dem Stahlbau – thematisiert. Einen Auftritt hat hier der Architekt und spätere ETH-Professor Alfred Roth. Seine beiden Doldertalhäuser demonstrieren in den Worten der Autorin «mustergültig, wie Architekten der Moderne die Argumentation für ihre Entwürfe aus technischen Aufgabenstellungen und nicht aus Stilpositionen herleiteten.» Auch der Wettbewerb um die Gestaltung des Völkerbundspalasts in Genf spielt im Buch eine zentrale Rolle. «In keinem anderen Moment des 20. Jahrhunderts standen die akustischen Experten in solchem Mass im Scheinwerferlicht einer Architekturdebatte wie bei jener um die Wettbewerbsresultate des Völkerbundpalasts», schreibt Sabine von Fischer. Dies ist kein Wunder, sollten die Versammlungssäle doch ganz explizit der Verständigung dienen. Und anhand der Geschichte des Kongresshauses Zürich von 1939 wird gezeigt, wie man sich zögerlich und ziemlich misstrauisch mit den neu aufkommenden Lautsprecheranlagen auseinandersetzte.

Illustrationen aus Artikeln von Franz Max Osswald zum Wettbewerb um die Gestaltung des Völkerbundpalasts. Der Akustiker reichte schliesslich einen eigenen Saalentwurf ein. (Buchseite: gta Verlag)
Wo bleibt die Ästhetik?

Kann die Raumakustik eine Ästhetik entwickeln? Im Zusammenhang mit einem Wohlklang und der guten Verständlichkeit dokumentiert das Buch Auseinandersetzungen, in denen der Wunsch festgehalten wurde, dass man hergebrachte ästhetische Empfindungen zugunsten der Akustik hintanstellen solle. Dies war wiederum an Architekt*innen gerichtet, welche eben als Augen- und bestenfalls noch als Tastmenschen gelten. Dass die Frage nach der akustischen Ästhetik eine sehr schwierige ist, erwähnt Sabine von Fischer auch im letzten Abschnitt, welcher der Ästhetik der Töne gewidmet ist. «Kulturelle, soziale, psychologische, physiologische genauso wie ökonomische, politische und ästhetische Faktoren woben ein multidimensionales Netz von Bezügen, innerhalb dessen sich das Wissen der Experten mit den Traditionen des Alltags überlagerte», schreibt sie zu den Bedingungen beim Umgang mit diesem Dilemma. Trotz den Messungen blieben Mysterien, welche schon Adolf Loos beeindruckten und bei Le Corbusiers Philips Pavillon für die Expo'58 in Brüssel architektonisch inszeniert wurden. Das bauakustische Forschen ist noch lange nicht zu Ende. 

Das Buch bemüht sich zur richtigen Zeit um eine Sensibilisierung. Denn mit der Verdichtung kommen neue Herausforderungen auf die Raumakustik zu. Dank der Digitalisierung bewegen sich immer mehr Menschen «zugestöpselt» oder mit dem Handy am Ohr durch den öffentlichen Raum – sie sind dann akustisch ganz bewusst und willentlich «nicht da». Auch dieser Erscheinung gilt es bei der Raumgestaltung Rechnung zu tragen. «Akustik ist eine verwickelte Disziplin», sagte Sabine von Fischer an der Buchvernissage. Die in ihrer Publikation erläuterten Zusammenhänge seien wichtig. Sie zu erkennen hält die Autorin für eine Architekt*innenaufgabe.

Das akustische Argument. Wissenschaft und Hörerfahrung in der Architektur des 20. Jahrhunderts

Das akustische Argument. Wissenschaft und Hörerfahrung in der Architektur des 20. Jahrhunderts
Sabine von Fischer

165 x 245 mm
367 Pages
174 Illustrations
Klappenbroschur
ISBN 9783856763541
gta Verlag
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