Neuer grosser Nachbar
Nele Rickmann
25. janvier 2024
Der Neubau des Büros Boltshauser Architekten ist ein repräsentativer Stadtbaustein. Dennoch überstrahlt er die historische Villa Wiesental nicht, sondern gibt ihr gleichsam Rückhalt. (Foto: Ladina Bischof)
Im Juli 2023 eröffnete das neugebaute Hotel Leo direkt neben der historischen Villa Wiesental in St.Gallen. Das schlanke Hochhaus ist Aushängeschild für das sich stetig weiterentwickelnde Quartier Bahnhof Nord und fungiert als Vermittler zwischen innerstädtischem Gewerbegebiet und der einst abrissgefährdeten Villa.
Sie teilen sich dasselbe Grundstück, doch könnten unterschiedlicher nicht sein: die Villa Wiesental, 1878 von Daniel Oertli (1824–1911) als Gründerzeitvilla erbaut, und das kürzlich eröffnete Hotel Leo, um die 25 Meter hoch und im typischen Stil des Zürcher Architekten Roger Boltshauser errichtet. Neben dem Grössenunterschied war es vor allem die Sorge um den Abriss der alten Villa, welche die Stadt St.Gallen über mehr als ein Jahrzehnt umtrieb. Für Aufruhr sorgte erstmals ein 2012 entschiedener Wettbewerb für das besagte Grundstück an der Rosenbergstrasse, den damals das Zürcher Architekturbüro Caruso St John für sich entscheiden konnte. Der radikale Entwurf sah nicht nur den Abriss der historischen Villa vor, sondern auch einen achtgeschossigen Gewerbeneubau, der sich als massives Volumen über das gesamte Eckgrundstück erstrecken sollte.
Nach einem Wettbewerb im Jahr 2012 drohte der Villa Wiesental zunächst der Abriss. Doch das Siegerprojekt kam nie zur Ausführung. (Foto: Ladina Bischof)
Umgesetzt wurde dieser Entwurf nie, weil der Stadtrat die Villa für das «Stadtkrone» genannte Neubauprojekt nicht aus dem Schutzinventar entlassen wollte – und alsbald gründete sich der Verein Pro Villa Wiesental, der sich für den Erhalt des historischen Gebäudes einsetzte. Mit Erfolg, denn nachdem der Stadtrat 2016 einen Neubau im Garten der Villa Wiesental aufgrund der mangelnden «städtebaulichen Vorzüglichkeit» abgelehnt hatte, konnte durch eine Anpassung des Sondernutzungsplans Wiesental im April 2020 die Renovation der Villa nebst Nachverdichtung durch Neubau in die Wege geleitet werden. Die Pensionskasse der Stadt St.Gallen, die 2019 das Grundstück samt der Villa von der HRS Investment AG gekauft hatte, lud als Bauherrin gemeinsam mit der HRS Boltshauser Architekten für die Planung des Hotelneubaus und Pfister Schiess Tropeano aus Zürich für die Sanierung der historischen Villa ein. Diese war seit Jahren Stadtgespräch und politisch wie auch symbolisch aufgeladen: Ihr sollte es nicht so ergehen, wie vielen anderen St.Galler Stadtvillen aus derselben Zeit, die bereits Ersatzneubauten weichen mussten.
2020 fiel die Entscheidung, die Villa zu renovieren und auf dem Grundstück mit einem Neubau nachzuverdichten. (Foto: Ladina Bischof)
Das neue Hotel stammt aus der Feder Roger Boltshausers, die Villa wurde vom Zürcher Büro Pfister Schiess Tropeano saniert. (Foto: Ladina Bischof)
Fassade: Vermittlerin zwischen alt und neuDer Gründerzeitvilla Wiesental setzten Boltshauser Architekten einen schlanken, hohen Baukörper entgegen. Obwohl beide Projekte getrennt voneinander funktionieren (die Räume der Villa werden individuell als Büroeinheiten vermietet), verbindet sie die unmittelbare Nähe, die jedoch lange Zeit als Problem betrachtet wurde. Boltshauser Architekten gehen auf diese Herausforderung einerseits mit der Abtreppung des Bauvolumens um ein Vollgeschoss zum Bestand hin ein, andererseits lassen sich Referenzen zu den Nachbarbauten an den Fassaden ablesen. Diese erscheinen in einer für Roger Boltshauser typischen, klar ablesbaren Fassadentektonik und sind zu allen vier Seiten unterschiedlich ausgeprägt. Sie fungieren durch eine vertikale oder horizontale Gliederung als Vermittler zwischen Bestand und Neubau.
Zur Villa hin sind die unteren drei Geschosse durch vertikale Lisenen gegliedert, die eine Art Sockel ausbilden, der ein Pendant zur Villa herstellt. In den vier Geschossen darüber gliedern hingegen horizontale Fensterbänder die Fassade, sie scheinen auf dem Sockel zu ruhen. Nach Süden hin, also an der gegenüberliegenden Gebäudeseite, dreht sich das Fassadenspiel um: Die unteren Geschosse, die einem zeitgenössischen Gewerbe- und Bürobau entgegenblicken, sind horizontal gegliedert, während sich die oberen Geschosse mit den sogenannten «hängenden Stützen» vertikal in die Höhe strecken.
Die Fassadengestaltung ist eine der Stärken des Neubaus. Er tritt zur Kreuzung St.Leonhard hin repräsentativ in Erscheinung. Zugleich stört er die Wirkung des benachbarten Baudenkmals Villa Wiesental nicht. (Foto: Ladina Bischof)
Das Gebäude schafft es, sich zur einen Seite repräsentativ zu zeigen und die vormals unscheinbare Kreuzung St.Leonhard mit einem Anhaltspunkt zu versehen – zur anderen Seite gelingt es gleichermassen, der Villa Wiesental Rückhalt zu geben. Nicht nur durch die Fassadengliederung, sondern auch farblich orientiert sich der Neubau an der historischen Villa: Mit einem abwechslungsreichen Spiel aus grünlichen und weissgrauen Klinkern wird auf die hellen Putzoberflächen und den grün schimmernden Sandstein des Gründerzeitgebäudes reagiert. Nur die ursprünglich angedachte Verwendung von rezyklierten Klinkern konnte nicht realisiert werden.
Im schmalen Zwischenraum von Villa und Neubau fühlt man sich überraschenderweise nicht eingeengt, was auf die gute Fassadengestaltung zurückzuführen ist und durch den Höhenunterschied vielleicht hätte vermutet werden können. Dort befindet sich jetzt ein Platz, der als Auftakt zum Quartier verstanden werden kann und von Gästen der Villa und des Hotels gleichermassen genutzt werden soll – so die Intention der Planenden, die ihn als Stadtplatz mit «öffentlichem Charakter» definieren. In der Realität sieht das allerdings anders aus: Pflanzenkübel grenzen einen raumgreifenden Aussenbereich für das Hotel ab. Was bleibt, ist ein Durchgang zum hinter dem Neubau liegenden Kulturzentrum Lokremise. Aus einer grossen, städtisch gedachten Idee ist eine halb-öffentliche «Vorzone» für Hotelgäste geworden.
Auch im Gebäudeinneren zeigt sich eine ausgeprägte tektonischen Schichtung. Hier kamen umweltfreundliche Materialien wie Holz und Lehmsteine, sogenannte Terrapads, zum Einsatz. (Foto: Ladina Bischof)
Schichtung: Prinzip für innen und aussenDas Thema der tektonischen Schichtung zieht sich im Inneren des Hotels weiter. Erkenntlich bleibt die strukturelle Grundkonstruktion: ein Betonskelett mit Treppenkern, das sich zur Längsseite mit sechs respektive sieben und zur Querseite mit drei im Raster stehenden Stützen gliedert. Alle nichttragenden Zwischenwände sind in die feste Tragstruktur sichtbar eingesetzt, bestehend aus Glasbausteinen und nachhaltigen Materialien wie Holz oder den in diesem Projekt erstmals verwendeten Terrapads, einem Lehmsteinprodukt der Firma Terrabloc, mit der Boltshauser Architekten bereits andere Projekte realisiert haben.
Terrapad ist in der verwendeten Grösse M mit den Massen 20 mal 80 Zentimeter die grosse Schwester des kleineren und handlicheren Terrablocs in Klinkergrösse. Beide Lehmsteinprodukte bestehen aus den Erden des örtlichen Aushubs und einem kleinen Anteil Zement. Im Hotel Leo wurden sie sichtbar im Inneren vermauert. Ihre beige-braunen Farbnuancen kontrastieren mit dem Schwarz der Metalleinbauten sowie der eigens vom Architekten entworfenen Leuchten aus Muranoglas: Materialien und Fügungsmethoden, wie sie auch schon in anderen Projekten Boltshausers Verwendung fanden – also für Bauten des Architekten typisch sind und seinen Stil auszeichnen. In der Gesamterscheinung mit naturfarbenen Lehmsteinwänden, roten Details und dunkel lasierten Holzoberflächen durchströmt das Gebäude eine einladende und elegante Atmosphäre.
Foto: Ladina Bischof
«Gutes Bauen Ostschweiz» möchte die Diskussion um Baukultur anregen. Die Artikelserie behandelt übergreifende Themen aus den Bereichen Raumplanung, Städtebau, Architektur und Landschaftsarchitektur. Sie wurde lanciert und wird betreut durch das Architektur Forum Ostschweiz (AFO). Das AFO versteht alle Formen angewandter Gestaltung unserer Umwelt als wichtige Bestandteile unserer Kultur und möchte diese in einer breiten Öffentlichkeit zur Sprache bringen.
Nele Rickmann studierte Architektur an der RWTH Aachen und der Bauhaus-Universität Weimar. Nach ihrer Masterarbeit zum Thema Architekturpublizistik trat sie 2022 in die Redaktion der archithese ein. Seither schreibt sie auch darüber hinaus über aktuelle Themen im Architekturdiskurs.