Lorea Schönenberger und Nicola Toscano: «Wir nehmen einen Verlust von Werten wahr, von Dingen, die uns wichtig sind»
Elias Baumgarten
4. mars 2021
Lorea Schönenberger und Nicola Toscano (Foto © Atelier Toscano)
Die jungen Architekturschaffenden engagieren sich politisch, unterrichten am Gymnasium und haben kürzlich ihren ersten Wettbewerb gewonnen. Im Interview sprechen sie über ihre Arbeit und Haltung.
Lorea, Nicola, ihr arbeitet erst seit vorigem Jahr zusammen.
Lorea Schönenberger: Wir haben uns beim Widerstand leisten kennengelernt.
Nicola Toscano: Das war letzten Sommer, als Lorea frisch diplomiert hatte. Ich las im Hochparterre einen Artikel von Rahel Marti über den Widerstand der Menschen in der Gemeinde Oberhofen im Berner Oberland. Sie wehren sich dagegen, dass der grosse Entwickler Frutiger das Barell-Gut, eine freie Wiese oberhalb des Thunersees, mit austauschbaren Mehrfamilienhäusern zupflastert. Drei Anwohnerinnen haben den Verein Barell-Gut gegründet, der dem Unmut der Menschen eine Stimme gibt. Sie führen den Kampf gegen das Projekt an. Das hat mir imponiert. Mich stört die Angleichung der Baustile in der Region und in der ganzen Schweiz sehr. Ich möchte nicht, dass aus wirtschaftlichem Interesse Einzelner überall dieselben beliebigen Bauten aus dem Boden gestampft werden und der öffentliche Raum darüber vernachlässigt wird. Kurzum: Ich wollte mich engagieren. Bei einem der ersten persönlichen Treffen mit der Gruppe bekam ich dann Loreas Adresse.
LS: Die Vereinsmitglieder haben riesige Freude daran, dass sich junge Architekten für ihr Anliegen interessieren. Von uns wollten sie einen architektonischen Gegenvorschlag zur geplanten Überbauung von Frutiger. Sie haben klare Vorstellungen davon, was mit dem Barell-Gut geschehen soll. Eine Permakultur wird favorisiert, daneben ist auch eine alternative Bebauung im Gespräch.
Uns allerdings geht es nicht um ein Projekt, sondern um das Dorf. Die Gemeinde muss sicherstellen, dass die öffentlichen Interessen gewahrt werden. Würden wir zum jetzigen Zeitpunkt unsererseits ein Projekt erarbeiten und Bilder erzeugen, würden auch wir etwas aufoktroyieren. Das wollen wir auf keinen Fall!
Stattdessen habt ihr zum Beispiel einen Vortrag gehalten.
LS: Richtig, im Rahmen des Informationsabends «Zukunftsmusik» haben wir versucht, das Raumplanungsgesetz (RPG) für alle verständlich zu erklären, und über Verdichtung gesprochen. Wir möchten die Menschen mit unserem Fachwissen unterstützen. Sie sollen fundiert eigene Entscheidungen treffen und vertreten können. Hoffentlich können wir so letzten Endes auch auf einen verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen, Bauland, Landschaft und Umwelt hinwirken.
NT: Unser gemeinsames Ziel ist jetzt, dass eine differenzierte Meinung im Dorf entsteht. Wir hoffen, dass so das Bauvorhaben an der Volksabstimmung abgelehnt wird. Der Weg würde frei für ein Projekt, das dem Leben im Dorf nachhaltig dient.
Plakat zum Informationsanlass «Zukunftsmusik» (Filmstill: Atelier Toscano)
Euer Büro ist noch sehr jung, ihr versucht euch gerade zu etablieren. Habt ihr keine Angst vor negativen Konsequenzen, wenn ihr einem einflussreichen Entwickler und einer Gemeinde gleichzeitig auf die Füsse tretet?
NT: Das ist eine gute Frage. Unser Kollege Jürg Bührer, der sich mit uns für das Barell-Gut engagiert, hat bedenkliche Machenschaften aufgedeckt: Im Kaufvertrag zum Grundstück wurde beispielsweise festgehalten, dass die Gemeinde den Investor an der Volksabstimmung unterstützen muss und dieser beim qualitätssichernden Verfahren alle Fachleute im Gremium bestimmt. Wie kann die öffentliche Hand da die Qualität sicherstellen? Das Wissen über diese Umstände brachte uns in die Bredouille: Lorea fand, die Stimmbürger hätten das Anrecht, sofort darüber Bescheid zu wissen, um sich ihre eigene Meinung zu bilden. Für Jungunternehmer ist wichtig, klare Werte zu vertreten – nur sollte der eigene Ruf möglichst nicht darunter leiden.
LS: Ich möchte nicht, dass man uns für trotzige Dickschädel hält. Andererseits ist uns sehr wichtig, Verantwortung zu übernehmen und für unsere Überzeugungen einzustehen. Wenn man etwas erreichen will, muss man einen kühlen Kopf bewahren und geduldig bleiben, auch wenn die Realität manchmal schwer erträglich ist. Das ist nicht immer einfach, doch wir spüren, dass unsere Arbeit am Ende Wertschätzung findet.
NT: Wir werden sicher noch einige frustrierende Erfahrungen machen. Aber auch kleine Fortschritte rechtfertigen unsere Anstrengungen.
Der Szenenplan zeigt, in welchem Verhältnis wertvoller Landschaftsraum und Siedlungsgebiete zueinander stehen.
Steht die Situation in Oberhofen denn stellvertretend für Probleme, die wir in der ganzen Schweiz haben?
NT: Ja. Wir nehmen einen Verlust von Werten wahr, von Dingen, die uns wichtig sind.
Inwiefern?
NT: Unsere Gesellschaft schreit nach Individualität. Die kurzfristigen und privaten Interessen werden über alles gestellt. Das ist vielerorts zu beobachten.
LS: Der Grundsatz «zuerst die Stadt, dann das Haus» galt früher auch auf dem Lande. Ein Dorf ist mehr als eine Anhäufung von Bauten. Das Dorfleben ist, was es ausmacht.
NT: Bis 2019 habe ich bei Staufer & Hasler Architekten in Frauenfeld gearbeitet. Mich hat beeindruckt, mit welcher Selbstverständlichkeit Thomas Hasler an einer Gemeinderatssitzung eine Inschrift zitiert hat, die an einem historischen Haus in Steckborn im Thurgau zu lesen ist: «Zum Wohle des Dorfes, zur Zierde des Platzes, zur Freude des Bauherrn.» Heute gilt das nicht mehr. Die Reihenfolge hat sich umgekehrt – oft steht der Bau als Privatraum im Fokus. Für die Gemeinschaft wird allenfalls noch ein kleiner Spielplatz neben das Haus gestellt.
LS: Damit geben wir uns nicht zufrieden! Menschen halten sich, so denke ich, gern an öffentlichen Orten auf. Deren Gestaltung ist ein wichtiges baukulturelles Thema. Den Diskurs über Baukultur anzuregen und zu fordern, sehe ich als eine wichtige Aufgabe unserer Generation.
NT: Aber zurück zu deiner Frage nach der Übertragbarkeit des Beispiels Oberhofen auf die ganze Schweiz. Es sagt auch etwas über den Begriff Verdichtungen in den strukturell schwächeren Randregionen unseres Landes aus. Das neue RPG, das von der Bevölkerung angenommen wurde, setzt einige Gemeinden besonders unter Druck. Sie sehen sich umringt von Autoritäten und Institutionen, die ihnen scheinbar alle das Leben schwer machen. Sie befürchten, nicht mehr wachsen zu können, und sehen das lokale Gewerbe in Gefahr. Der Diskurs über eine qualitätsvolle Verdichtung wird nicht überall gleich qualifiziert geführt. Man darf nicht vergessen, dass gewisse Gemeinden auf das Bauen, den Tourismus und das Geld auswärtiger Investoren angewiesen sind. Ich kenne das beispielsweise aus Lenk im Simmental, wo meine Eltern zu Hause sind. Wir fragen uns, wie und wo wir da am besten ansetzen können.
LS: Die Verdichtung ist hierzulande noch ein sehr negativ konnotierter Begriff. Sie wird nicht als Chance verstanden, sondern als Stressfaktor angesehen. Gerade in ländlichen Regionen mangelt es an Konzepten, es fehlt an räumlichen Dorfbildern und Visionen. Vielfach herrscht noch die Idee vor, es genüge, ein Stockwerk mehr zu bauen. Das Baugesetz lässt mancherorts ausserdem ein sinnvolles verdichtetes Bauen gar nicht zu – auch da wollen wir ansetzen. Ein Beispiel dafür ist Hilterfingen, wo ich im vergangenen Dezember in die Bau- und Planungskommission gewählt wurde – dadurch sind neu auch zwei Architektinnen vertreten. Unsere Gemeinde liegt am Hang, das Baureglement ist aber für die Fläche gedacht. Dies führt zu anonymen Räumen und Projektierungen, die kaum auf den Ort und die Topografie Bezug nehmen.
Was kann man tun?
LS: Wir brauchen differenzierte und ortsbezogene Ansätze zur Gestaltung unserer Dörfer. Ein Beispiel dafür wäre der Weg, der seit Peter Märklis Anstoss in Glarus Nord verfolgt wird. Wir schätzen das Engagement von Nina Cattaneo und Pascal Marx von Ruumfabrigg in Glarus in diese Richtung sehr. Sie entwickeln dort im Auftrag der Gemeinde Glarus Nord räumliche Dorfbilder als Teil der Revision der Nutzungsplanung. Sie organisieren Dorfspaziergänge, um die Bevölkerung zu sensibilisieren. Diese erfreuen sich grossem Zuspruch. Das ist eine wichtige Arbeit. Daran möchten wir in unserer Region anknüpfen.
Inzwischen gemeinsam betreuen Lorea Schönenberger und Nicola Toscano einen jährlichen Architekturworkshop am Gymnasium in Uster. (Foto: Atelier Toscano)
Foto: Atelier Toscano
NT: Die Bevölkerung wird unterschätzt, wir müssen sie einbinden. Machen wir uns keine Illusionen, nicht jeder Mensch interessiert sich für die gebaute Umwelt, obwohl sie ihn angeht – doch bei vielen ist eine Unzufriedenheit über das aktuelle Baugeschehen vorhanden; ein Grundgefühl ist also da. Das müssen wir Architekten nutzen. Die Architekturvermittlung könnte einen Beitrag zu einer lebendigeren Debatte über baukulturelle Fragen leisten. Ich darf seit drei Jahren einen Architekturworkshop für die sechste Klasse des Gymnasiums in Uster organisieren – das mag nur ein kleiner Anfang sein, der durch eine engagierte Lehrerin ermöglicht wird, dennoch halte ich es für einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung.
LS: Diesmal lief der Workshop Corona-bedingt etwas anders ab als in den Jahren davor. Vormittags haben wir uns mit den Aussagen des Soziologen Lucius Burckhardt auseinandergesetzt. Ausserdem haben die Schüler einen Wahrnehmungsspaziergang unternommen, wobei sie ihre Beobachtungen festgehalten und kartiert haben. Am Nachmittag dann wurde entworfen. Interessant war, dass Architektur von den Jugendlichen sehr objekthaft wahrgenommen wird. Dem Raum zwischen den Gebäuden haben sie kaum Beachtung geschenkt. Er wird von ihnen nicht als Aufgabe des Architekten verstanden. Wir erhoffen uns, durch Architekturvermittlung den Diskurs über Raum und Architektur anzuregen und so für gewisse Themen wieder mehr Akzeptanz in der Bevölkerung zu schaffen.
Mit der Umgestaltung und Erweiterung des historischen Murhofs im Kanton Luzern konnte Atelier Toscano einen ersten Wettbewerb gewinnen. Der Entwurf sieht ein Wohnhaus in der Hostett, ein öffentliches Gasthaus am Platz, eine Kita in der Klosterscheune und einen Mehrzweckraum in deren Dachstuhl vor.
Ausschnitt der Fassade des zweistöckigen Wohnhauses in der Hostett
Lasst uns thematisch springen: Neben eurem Engagement habt ihr gerade euren ersten Wettbewerb gewonnen.
NT: Ja, zu unserer grossen Überraschung und Freude! Die Gemeinden Pfaffnau und St. Urban suchen einen Ersatz für das in die Jahre gekommene Altersheim am Murhof. Der Bauplatz befindet sich in erhöhter Lage im Rücken des Klosters St. Urban inmitten von saftigen Wiesen und schönen Obstbäumen. Sowohl im Programm als auch im Gespräch mit dem Heimleiter bei der Begehung war zu spüren, dass die Auftraggeber etwas Spezifisches für ihre Region suchen, eine Art ländliche Wohnform für die Alten. Wir waren uns der Qualitäten unseres Ansatzes bewusst, dass es gleich zum Sieg reicht, haben wir aber nicht erwartet.
LS: Benedikt Loderer hat schon 1996 im Hochparterre sehr schön geschrieben: «Ein alter, erwachsener Mensch will ernst genommen werden, nicht verwaltet.» Diese Feststellung ist heute, da unsere Gesellschaft zusehends altert, aktueller denn je. Sie hat uns inspiriert. Der Entwurf soll einem lebendigen Wohnhaus nahekommen und so wenig an ein Heim erinnern als irgend möglich.
Wir schlagen ein öffentliches Gasthaus am Platz und ein langgestrecktes, zweistöckiges Wohnhaus in der Hostett vor. Die längliche Form ergibt sich dabei aus der landschaftlichen Setzung. Sie bietet zudem den grossen Vorteil, dass eine Laube als Ort des Miteinanders geschaffen werden kann. Anonyme Erschliessungskorridore und sterile Speisesäle wird es nicht geben.
Modellfoto: Atelier Toscano
Situation
Grundriss Erdgeschoss
Zum Projekt gehört auch die Umgestaltung der historischen Klosterscheune gleich nebenan.
LS: Genau, im Ideenteil des Wettbewerbs sollte über die Nutzung einer denkmalgeschützten Scheune auf dem Grundstück nachgedacht werden. Wir haben vorgeschlagen, sie in Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege auf das ursprüngliche Volumen rückzubauen. Nur ein strassenseitiger Anbau, der den Scheunenvorplatz mit einer alten Linde fasst, soll erhalten bleiben. Im hohen Erdgeschoss möchten wir eine Kita unterbringen, der Dachstuhl soll zum Mehrzweckraum der Dorfgemeinde werden.
NT: Mit den öffentlichen Nutzungen wie dem Gasthaus, dem Mehrzweckraum und der Kita entsteht am Murhof nicht nur ein Ort fürs Alter, sondern ein Treffpunkt für das ganze Dorf. Die Kita kommt den Eltern zugute, die vor Ort in der Pflege arbeiten. Ausserdem ziehen mit den Kindern Leben und Fröhlichkeit ein. Wir hoffen, dass gerade die älteren Bewohner vom Zusammenführen der Generationen profitieren werden.
Mit eurer Haltung seid ihr unter den jungen Schweizer Büros nicht allein. Auch in den Nachbarländern habt ihr Gleichgesinnte. Gibt es einen Austausch oder gar ein Netzwerk?
NT: Ich weiss nicht, ob Netzwerk der richtige Begriff ist, aber einen echten Austausch gibt es wirklich. Ich habe Nina und Pascal schon vor zwei Jahren besucht. Sie haben mir einen ausführlichen Einblick in ihre Arbeit an den räumlichen Dorfbildern gegeben.
LS: Vielleicht ist es genau richtig, wenn wir alle wie kleine Ameisen in unseren Regionen architektonisch und politisch an einer positiven Veränderung arbeiten und unsere Erfahrungen und Erkenntnisse teilen. So lässt sich bestimmt noch viel erreichen!
Danke für das interessante Gespräch. Mich beeindruckt, dass ihr anpackt, statt nur zu klagen. Bitte erhaltet euch euren Idealismus und euren Kampfgeist.
Lorea Schönenberger (*1989) absolvierte eine Berufslehre als Hochbauzeichnerin und war von 2011 bis 2013 Projekt- und Bauleiterin bei Wunderlin Architekten in Basel. Zwischen 2012 und 2015 studierte sie an der FHNW in Muttenz Architektur und arbeitete als Architektin und stellvertretende Projektleiterin beim Basler Büro Gschwind Architekten. Zwei Jahre später, 2017, nahm sie ein Masterstudium an der ETH Zürich auf, wo sie 2020 ebenfalls bei Professor Gion A. Caminada diplomierte. Kurz darauf stiess sie zu Atelier Toscano und wurde in die Bau- und Planungskommission der Gemeinde Hilterfingen gewählt.