Die ukrainische Architektin Anhelina Starkova berichtet von ihren Erlebnissen in Charkow: «Ich habe den grössten Schmerz gefühlt, den ein Mensch nur fühlen kann»
Elias Baumgarten
12. mars 2022
Foto: Anhelina Starkova
Von einem Moment auf den anderen war in Anhelina Starkovas Leben nichts mehr wie zuvor. Putins Krieg hat ihre Heimatstadt verwüstet und ihre Zukunftspläne durchkreuzt. Doch ihren Mut hat sie nicht verloren.
Dieses Interview wurde schriftlich geführt und aus dem Englischen übersetzt.
Anhelina, du konntest dich aus Charkow in die Westukraine retten. Wie soll es dir in dieser schrecklichen Situation schon gehen. Trotzdem: Wie geht es dir und deiner Familie aktuell?
Der Westen der Ukraine ist friedlich, der Osten Kriegsgebiet. Ich verliess den Osten und bekam ein zweites Leben im Westen. Ich lebe jetzt in den winterlichen Karpaten. Ich schaue in die Ferne, auf die hohen, schneebedeckten Gipfel – und ich schaue in die Zukunft meines Landes und meiner Familie. Ich träume davon, dass sie so stark und ruhig ist wie diese majestätischen Berge. Meine Familie und meine Hoffnung sind bei mir. Ja, die Zeiten sind dunkel, gefährlich und unvorhersehbar. Jedes Mal, wenn ich ein ukrainisches Militärflugzeug sehe, wird mir klar, dass der Frieden noch immer nur ein Traum ist. Vielleicht begreife ich jetzt wirklich dieses Streben, diese Suche nach Frieden, – nach dem Paradies, dem grössten Traum des Menschen auf Erden.
Du sprichst von einem zweiten Leben, denn der Krieg hat alles verändert. Wie hast du den Beginn des Überfalls erlebt?
Am 24. Februar 2022 um 5 Uhr 10 morgens wachte ich auf und hörte die Bombardierung meiner Heimatstadt, meines Charkow. Ich war absolut sprachlos und es brach mir das Herz, – ich realisierte, dass Krieg war.
Ich wusste bis anhin nicht, was Krieg heisst, das Wort hatte keine Bedeutung für mich. Und plötzlich wurde es lebendig und bemächtigte sich meiner. An diesem Morgen sah und hörte ich den Tod durch mein Fenster. Das Leben war abrupt zu Ende, und der Countdown hatte begonnen: Der Tod schien nur noch eine Frage der Zeit.
Auch deine Wohnung wurde zerstört. Was hast du in Charkow erlebt, bevor du die Stadt verlassen konntest?
Ich denke, in Charkow habe ich den grössten Schmerz gefühlt, den ein Mensch nur fühlen kann. Weil die Stadt pausenlos aus der Luft angegriffen wurde, war der Tod allgegenwärtig. Du kannst nicht schlafen, du kannst nicht essen, ohne an ihn zu denken. Marschflugkörper (Cruise-Missiles) flogen Tag und Nacht über mein Haus. Sie liessen die Wände wackeln und meine Seele erzittern. Es gab keinen Ort, um sich zu verstecken. Denn als der Krieg ausbrach, waren die Bunker und Schutzräume verschlossen. Wir waren wehrlos und sahen einfach zu, wie die russischen Soldaten unsere Stadt zerstörten, unsere Architektur, unsere Geschichte und unsere Zukunft.
Eine Kinderzeichnung an der Wand eines Bunkers in Charkow (Foto: Anhelina Starkova)
Hat die russische Armee gezielt zivile Ziele angegriffen?
Bis heute sind in der Ukraine bereits Tausende Zivilisten gestorben, darunter über 80 Kinder. In Charkow hat die russische Armee gezielt Wohngebiete, Kinderkrankenhäuser, Schulen und öffentliche Einrichtungen bombardiert. Wir können von einem Eroberungskrieg sprechen. Putin hatte wirklich nicht das Ziel, Zivilisten zu töten. Sein Ziel ist das Territorium der Ukraine, die Menschen und ihr Leid ignoriert er einfach. Wir erleben die Vernichtung der Ukraine als Nation – einschliesslich unserer Kultur, unserer Städte und unserer Geschichte.
Wie war die Situation in Charkow, als du die Stadt verlassen hast? Bei uns hiess es in den Nachrichten, ihr wärt eingeschlossen und es fehle an Wasser und Lebensmitteln.
Wir wachten um 7 Uhr auf und rannten zum Bunker. Dieser war unerträglich angsteinflössend. Es gab keine Garantie, dort in Sicherheit zu sein, denn seine Architektur entsprach nicht den Anforderungen des Krieges. Wir verbrachten dort den ganzen Tag und blieben bis tief in die Nacht, weil es nicht sicher war, den Bunker überhaupt zu verlassen. Charkow wurde ständig beschossen, die Stadt wurde in Schutt und Asche gelegt. Sie zu verlassen, war ein grosses Risiko, aber es war eine Chance zu überleben. Ich habe Verantwortung übernommen: Mein Leben und das meiner Familie hingen von meinem Handeln ab. An einem Morgen habe ich die Entscheidung getroffen. Ich hatte Glück. Meine Familie und ich haben überlebt.
Wie ging eure Flucht aus Charkow vonstatten?
Ich nahm das Nötigste mit und ging zusammen mit meiner Familie zum Bahnhof. So ein Chaos habe ich in meiner Stadt noch nie gesehen! Der Bahnhof war überfüllt, die Menschen standen dicht an dicht, und nur Frauen und Kinder hatten eine Chance, zum Zug zu gelangen. Ich verstehe, dass die Evakuierung nicht organisiert war. Die Menschen rannten einfach zu einem der Ausgangstore der Haupthalle des Bahnhofs. Nur diejenigen, die mehrere Stunden lang in der Schlange stehen konnten, ohne in Ohnmacht zu fallen oder zu ersticken, verliessen die Stadt. Die Schwachen, die Einsamen und die Behinderten hatten keine Chance. Das ist grausam und schmerzhaft. Die Ukraine hat sich nicht auf den Krieg vorbereitet, die Ukraine hat sich nicht auf die Evakuierung vorbereitet. Ich hoffe nur, dass die Ukraine nach dem Krieg und unserem Sieg für den Frieden bereit sein wird.
Auch der Bunker bot Anhelina keine wirkliche Sicherheit. Ob er den russischen Waffen standhalten würde, war ungewiss. (Foto: Anhelina Starkova)
Was bedeutet der Krieg für dich als Architektin? Du hast eben das Buch «Nicht-Referenzielle Architektur», das von Valerio Olgiati gedacht und von Markus Breitschmid geschrieben wurde, ins Russische übersetzt. Auch bist du Teil des Kuratorenteams für den Beitrag der Ukraine zur nächsten Architekturbiennale von Venedig im kommenden Jahr.
Ich denke die ganze Zeit über Architektur nach. Ich habe keine Leidenschaft für Architektur, Architektur ist mein Leben! Ich habe mich ganz bewusst für diesen Beruf entschieden. Heute hat sich mein Verständnis von Architektur vertieft, ich denke viel über sie im Zusammenhang mit den militärischen Ereignissen nach. Ich glaube, dass es eine wichtige Lektion für einen Architekten ist, einen Krieg zu beobachten. Wie die Architektur im Frieden funktioniert, ist schön und gut, aber wie sie ihre grundlegende Funktion – den Schutz – wirklich erfüllt, kann man nur im Krieg verstehen.
Ja, ich habe gerade das Buch von Valerio Olgiati übersetzt, der russische Verlag Tatlin sollte meine Übersetzung diesen Monat veröffentlichen. Aber angesichts der jüngsten Ereignisse bezweifle ich sehr, dass wir unser Projekt mit Moskau fortsetzen werden. In der Putin-Ära wird die russische Öffentlichkeit das Buch jedenfalls nicht zu Gesicht bekommen.
Auch meine persönlichen Projekte in Europa wurden vorübergehend blockiert, weil Architektur und Krieg unvereinbar sind.
Die Solidarität im Westen, ja weltweit ist enorm. Es gibt grosse Demonstrationen und eine Welle der Hilfsbereitschaft, ganz besonders in Polen. Einige Länder haben auch beschlossen, Waffen zu liefern. Freiwillige kommen in die Ukraine, um zu kämpfen.
Die Unterstützung aus dem Westen ist für die Ukrainer heute unerlässlich, denn wir kämpfen gegen den Faschismus, und da dieser die ganze Welt bedroht, warten wir auch auf Unterstützung aus der ganzen Welt. Unsere Armee kämpft für die Freiheit der Ukraine und aller europäischen Staaten. Wir sind unendlich dankbar für den Willen der EU-Bürger, sich moralisch und physisch zu beteiligen. Kommt in die Ukraine und stoppt den Feind, solange er noch an der Grenze steht und seine militärische Übernahme aufgehalten und neutralisiert werden kann! Die Geschichte des Faschismus sollte sich nicht wiederholen, Nachdenken und Untätigkeit schieben den Dritten Weltkriegs nur auf.
Du gehst also davon aus, dass sich der Krieg ausweiten wird? Die Journalistin und Historikerin Anne Applebaum, die 2004 den Pulitzer-Preis gewonnen hat, äusserte kürzlich ähnliche Befürchtungen.
Putins Eroberungskrieg gegen ein unabhängiges Land lässt etwa die Spannungen mit Finnland in einem neuen Licht erscheinen. Wir haben von den Drohungen des russischen Präsidenten gegen die finnische Regierung gehört. Wir wissen, dass zur Sowjetunion, in deren Grenzen Putin ein neues Imperium errichten möchte, neben der Ukraine weitere Gebiete gehörten. Darum gibt es keine Garantie, dass er seinen Eroberungszug nicht fortsetzen wird. Auf der anderen Seite ist uns klar, dass der Fortgang des Krieges allein von der Ukraine abhängt. Wenn die Ukraine als unabhängiger Staat den Krieg gewinnt, – dann gewinnt ganz Europa seine Zukunft.
Foto: Anhelina Starkova
Anhelina hat sich mit ihrer Familie in die Karpaten zurückgezogen. (Foto: Anhelina Starkova)
In der Schweiz sind wir tief betroffen über die Bilder, die wir aus der Ukraine sehen. Viele möchten helfen. Was können die Menschen hier tun, was würde der Ukraine am meisten helfen?
Es ist notwendig, befristete Arbeitsplätze für die Ukrainer zu schaffen, es ist notwendig, persönliche finanzielle Unterstützung – und sei sie noch so klein – für die Bedürftigen in den gefährlichsten Kriegsgebieten des Landes zu leisten. Ich weiss, dass viele Menschen Charkow nicht verlassen, weil sie es sich finanziell nicht leisten können. In der Ukraine gibt es keine Unterkünfte für alle, wir haben keine Flüchtlingslager, und die Menschen werden in den schwierigsten Zeiten einfach im Stich gelassen. Viele gute Freunde von mir sind in Charkow geblieben und warten auf den Tod, weil ihnen niemand hilft. Gemeinsam müssen wir alles tun, um ihr Leben zu retten, unsere Freiheit, unsere Hoffnung und die Zukunft der Welt.