Weil junge Architektinnen weibliche Vorbilder brauchen
Manuel Pestalozzi, Elias Baumgarten
4. noviembre 2022
Am 20. Oktober präsentierten sich die Preisträgerinnen des anotHERVIEWture Award mit den Laudatorinnen in der Akademie der bildenden Künste in Wien. Von links nach rechts: Eva Alvarez, Catharina Maul, Catherine Guyot, Sabina Grincevičiūtė, Katharina Bayer, Barbara Poberschnigg, Margarete Salzer und Carla Lo (Foto: Karolina Golab © Bundeskammer der ZiviltechnikerInnen)
In Österreich wurde mit dem anotHERVIEWture Award ein Architekturpreis speziell für Frauen geschaffen. Zu den Trägern gehören auch der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein (SIA) und das Netzwerk Frau und SIA.
In vielen Berufen vollbringen Frauen grossartige Leistungen, die aber weit weniger wertgeschätzt und gewürdigt werden als die ihrer männliche Kollegen. Besonders ausgeprägt ist dies beispielsweise im Literaturbetrieb, wie uns die deutsche Expertin und Autorin Nicole Seifert berichtete, oder im Spitzensport, wie Marlen Reusser, Medaillengewinnerin an den Olympischen Spielen von Tokio, weiss; oder auch in der Fotografie, wie aus den Erinnerungen Pia Zanettis deutlich wird. Auch in der Architektur besteht immer noch grosser Nachholbedarf, obschon jüngst viel Positives geschehen ist, etwa bei der Vergabe des Pritzker-Preises. Im deutschen Sprachraum engagieren sich viele verschiedene Gruppen, Vereine, Institutionen, Medien und auch Einzelpersonen für mehr Vielfalt und Geschlechtergerechtigkeit in unserer Disziplin.
Die österreichische Bundeskammer der ZiviltechnikerInnen hat mit dem anotHERVIEWture Award einen Architekturpreis speziell für Frauen geschaffen. Unterstützung kommt dabei vom Bundesministerium Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport sowie von Deutschlands Bundesarchitektenkammer. Mit an Bord sind aus heimischer Sicht erfreulicherweise auch der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein (SIA) und das Netzwerk Frau und SIA. In der Jury waren aus der Schweiz Nicole Zahner und Barbara Zibell vertreten.
Das Doppelhaus-Projekt «Mut zur Lücke» in Innsbruck von Barbara Poberschnigg; das Niedrigstenergiehaus wurde 2018 fertiggestellt und füllt eine Baulücke. (Foto: David Schreyer)
Foto: David Schreyer
Auszeichnungen in vier KategorienDer erste anotHERVIEWture Award wurden am 20. Oktober in vier Kategorien vergeben. Die Preisverleihung fand in Wien statt. Jede Auszeichnung war mit 5000 Euro dotiert. In der Kategorie Female Architect of the Year, in der österreichische Architektinnen über 40 geehrt werden, ging die Auszeichnung an die Tirolerin Barbara Poberschnigg (Studio Lois). «Barbara Poberschnigg zeigt in ihren Projekten, wie das Bauen der Zukunft aussehen kann und muss und verdeutlicht in beeindruckender und unprätentiöser Weise die transformative Kraft der Frau in der Architektur», sagte Jurorin Katharina Bayer in ihrer Laudatio.
Gewinnerin in der Kategorie Emerging Female Architect of the Year für junge Architektinnen wurde die Wienerin Catharina Maul (maul-architekten). Die von ihr präsentierten Arbeiten überraschten die internationale Jury aus 15 Expertinnen durch ihre Reife. Diese habe ihr erlaubt, Eleganz und klassische Proportionen hervorzubringen, selbst dort, wo man es nicht erwarten würde, lobten sie. Auch der Einsatz von Materialien spreche für ein umfassendes Wissen und einen hoch entwickelten Sinn für Präzision.
Zudem gewürdigt wurde das Female Engineering Achievement of the Year. Hier kam die Landschaftsarchitektin Carla Lo (Carla Lo Landschaftsarchitektur) aus Wien für ihr Projekt «Kaiserbadschleuse | Die schwimmenden Gärten» zu Ehren. «Bei der Gestaltung der schwimmenden Gärten wurde die ehemals recht hässliche Schleuseninsel mittels zweier Brücken mit dem Ufer verbunden und ein feiner, neuer begrünter Raum im Freien mitten im Wasser geschaffen», beschrieb Jurymitglied Margarete Salzer in ihrer Laudatio das Werk. Sie fuhr fort: «So wird ein altes Ingenieurbauwerk – eine seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs teilweise zerbombte und ab dann nicht mehr benutzte Schleusenanlage – neuer Verwendung zugeführt.»
Schliesslich wurde der Award in der Kategorie International Female Architect of the Year an die litauische Architektin Sabina Grincevičiūtė (DO Architects) vergeben. «Sabina repräsentiert eine neue Generation litauischer Architektinnen, die sich intensiv, cool, aber spielerisch mit Materialien befassen», sagte Catherine Guyot über die Preisträgerin. «Sie schafft neue Räume, die unterschiedliche Volumen umfassen und kohärent mit einem anfänglichen Konzept sind. Sie kann Räume neuen Nutzungen zuführen und ihnen einen Hauch von Modernität verleihen.»
Foto: David Schreyer
Weil weibliche Vorbilder für junge Frauen wichtig sind, lassen wir regelmässig Frauen zu Wort kommen, die in verschiedensten Disziplinen erfolgreich sind.
- Denise Tonella, Direktorin des Schweizerischen Nationalmuseums
- Insa Wilke, Deutschlands führende Literaturkritikerin
- Marlen Reusser, Radprofi und Silbermedaillengewinnerin an den Olympischen Spielen von Tokio
- Katharina Lehmann, international erfolgreiche Holzbau-Unternehmerin
- Nicole Seifert, deutsche Literaturexperten und Autorin
- Regula Lüscher, Berlins ehemalige Senatsbaudirektorin
Wie schon eingangs mit Bezug auf die Schweizer Beteiligung angedeutet, hat die anotHERVIEWture-Initiative eine ausgeprägt internationale Ausrichtung. Der neue Preis soll die Position von Frauen in der Planung und Gestaltung länderübergreifend stärken. Deswegen ist die extra eingerichtete Website beispielsweise auch komplett in englischer Sprache gehalten. Und natürlich ist die namhafte Jury international besetzt. Freuen dürfte die Verantwortlichen daher besonders, dass sich auf Anhieb viele Frauen aus dem Ausland um den Preis bewarben.
Die neue Auszeichnung ist eine schöne Initiative und absolut zu begrüssen. Weil Vorurteile gegen Frauen und deren Fähigkeiten noch immer weit verbreitet sind, muss künftig allerdings sorgfältig darauf geachtet werden, dass ein Preis nur für Frauen mit einer rein weiblichen Jury nicht als geschütztes Gärtchen missverstanden wird. Und wünschenswert für die Zukunft wäre, dass auch andere benachteiligte Gruppen im Kampf für mehr Diversität berücksichtigt werden, zum Beispiel queere Architekt*innen oder solche, die nicht aus Europa, Nordamerika oder Japan stammen. Schade wäre ein Denken in Peergroups. Oder mit Marlen Reusser: «Wir fühlen uns beispielsweise zur Gruppe Mann oder zur Gruppe Frau zugehörig. […] Ich finde, ich gehöre zur Gruppe Mensch!»