Welt im Dorf
Susanna Koeberle
25. octubre 2018
Der Dorfplatz mit seinen stattlichen Bauten. Bild: sk
Im Appenzell gibt es allerlei Schätze zu entdecken. Zum Beispiel städtische Architektur oder seltenes japanisches Handwerk. Ein Ausflug nach Trogen.
Trogen, der historische Hauptort von Appenzell Ausserrhoden, besitzt knapp 2000 Einwohner. Zu behaupten, dieser Ort sei architektonisch, wirtschaftlich und kulturell ein Hotspot – und dies bereits im 18. Jahrhundert –, erscheint als vermessen. Doch es entspricht der Wahrheit. Das zeigt ein herbstlicher Besuch anlässlich einer Ausstellung bei der Urushi-Künstlerin Salome Lippuner, die seit vier Jahren im sogenannten Honnerlagschen Doppelpalast lebt, einem prächtigen Haus etwas ausserhalb des Dorfkerns. Bei der Anfahrt beeindruckt schon der Dorfplatz mit seinen steinernen Bauten, man wähnt sich viel eher in einer Stadt als in einem 2000-Seelen-Dorf. Diese architektonische Pracht hat historische Gründe.
Trogen Dorf war einst Sitz der Appenzeller Patrizierfamilie Zellweger, die es durch Leinwand- und Baumwollhandel zu einigem Reichtum gebracht hatte. Davon zeugen im Dorfkern die stattlichen Zellweger-Paläste aus dem 18. Jahrhundert. Vom kleinen Trogen aus wurde nach Europa expandiert, die Zellweger hatten Filialen in Genua, Barcelona und Lyon. In der französischen Filiale war der in Trogen geborene Johann Conrad Honnerlag (1738–1818) als Geschäftsführer tätig, dessen Familie wiederum im 17. Jahrhundert aus Deutschland in die Schweiz gekommen war. Honnerlag heiratete eine Zellweger, gemäss der früher üblichen Heiratspolitik. Nach seiner Rückkehr aus Lyon im Jahr 1784 zog er mit seiner Familie in den 1763 erbauten Doppelpalast und liess die nordöstliche Hälfte des viergeschossigen Steinbaus mit Stukkaturen versehen. Sein Sohn Johann Conrad Honnerlag (1777–1838) ergänzte die Honnerlagsche Anlage durch Gärten. Der Kunst- und Literaturliebhaber förderte Kultur und Institutionen im Ort. Mitte des 19. Jahrhunderts starb das letzte Familienmitglied der Honnerlag.
Der Honnerlagsche Doppelpalast. Bild: sk
Zu jedem Hausteil gehört ein Gartenhäuschen. Bild: sk
Appenzell trifft Japan
Nach verschiedenen Besitzerwechseln wurde der eine Hausteil vor etwa 35 Jahren von einer Künstler-Gemeinschaft als Genossenschaft erworben. Das historische Haus wurde daraufhin zu einem kreativen Universum. Teil dieses Universums ist seit vier Jahren die Urushi-Künstlerin Salome Lippuner. Sie wohnt und arbeitet im Parterre. Ihre Werkstatt, in der ihre wunderschönen Lackarbeiten (Urushi ist der Name für den transluziden Harz des ostasiatischen Lackbaums) entstehen, nimmt etwa die gleiche Fläche ein wie der Rest der Wohnung. Zwei Mal jährlich veranstaltet sie gemeinsam mit der Textilgestalterin Therese Hächler (ebenfalls eine Bewohnerin des Honnerlagschen Palastes) ein Open-house-Wochenende, zu dem sie jedes Mal neue Künstlerinnen einlädt.
Diesen Herbst trafen die Besucher im Honnerlagschen Doppelpalast auf zauberhafte Wesen und luftige Gebilde der St.Galler Künstlerin Brigitta Gomringer. Ihre aus verwelkten Pflanzenteilen gefertigten Artefakte sind entweder winzig kleine menschliche Figuren oder grössere, von der Decke hängende Gebilde aus Draht, farbigen Gazestücken und pflanzlichen Partikeln. Salome Lippuner kreierte als Antwort auf die Arbeiten ihrer Kollegin neuen Urushi-Schmuck, der ebenfalls aus Pflanzen besteht. Sie zeigte zudem verschiedene Stücke aus ihrem riesigen Fundus, wie etwa Ohrringe aus mit Urushi-Lack überzogenen Fischknochen, die sie während ihres Stipendiums an der Cité des Arts in Paris geschaffen hatte. Solche Experimente sind keine Seltenheit bei der neugierigen Gestalterin, sogar Tierblasen überzog sie schon mit dem japanischen Lack. Daraus entstand eine Vasenserie. Sie möge solche Formen der Verunsicherung und schöpfe genau daraus Inspiration für ihre Arbeit, sagt Lippuner.
Die Werkstatt von Salome Lippuner mit einigen ihrer Kreationen. Bild: sk
Dass sie Schmuck aus Urushi macht, ist allerdings keine Selbstverständlichkeit. In Japan, wo sie das Lackhandwerk in der bekannten Shokodo-Manufaktur in Wajima erlernte, wurde sie anfangs belächelt für ihre schrägen Ideen. Heute würde sie um diese Freiheit im kreativen Prozess von ihren japanischen Kollegen beneidet, erzählt sie. Ihre Expertise hat sich mittlerweile herumgesprochen, sie erhält sogar Aufträge aus Indien – die Welt ist manchmal ganz klein. Oder es kommen Anfragen von Schweizer Architekten und Designern, die sich (wie die Verfasserin dieser Zeilen übrigens auch) in dieses magische Material verlieben. Kürzlich hat Salome Lippuner für ein Haus mehrere Klodeckel mit Urushi veredelt.
Mit Urushi überzogener Klodeckel und Schmuck. Bild: sk
Die Faszination für Handwerk erlebt zurzeit eine Renaissance, dennoch muss die Gestalterin immer wieder sensibilisieren für die aufwendige und langwierige Prozedur. So huschhusch noch etwas Handwerk hinzaubern, wie sich das viele vorstellen, geht eben nicht. «Der Handwerker muss auch ein guter Gestalter sein, um mit Architekten auf gleicher Augenhöhe zu kommunizieren», findet sie. Ein Austausch mit Gleichgesinnten ist deswegen wichtig, auch Vermittlung tut Not. Sie selbst unterrichtet regelmässig im Rahmen des Masters «konzeptuelle Denkmalpflege» an der Donau-Universität Krems. Es gibt Pläne, etwas Ähnliches auch in der Schweiz umzusetzen. Einzelne Schüler und Schülerinnen verschlägt es auch nach Trogen, in die Werkstatt der Gestalterin. Man kann sich sehr gut vorstellen, dass dies der perfekte Ort ist, um kreative Kräfte freizusetzen.