Zehn Jahre Monte Rosa-Hütte

Nicht feiern – machen!

Manuel Pestalozzi
28. noviembre 2019
Das äussere Bild der Monte Rosa-Hütte hat sich seit der Eröffnung nicht verändert. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 2016. (Foto: David Schweizer)

Für mich war es eines der aussergewöhnlichsten Ereignisse meiner Redaktorenkarriere: Zum ersten (und bisher letzten) Mal fuhr ich im September 2009 nach Zermatt. Dort drückte man mir nach einer kurzen Einführung zwei Papiertickets in die Hand – für den Hin- und den Rückflug im Helikopter –, verbunden mit der eindringlichen Ermahnung, dass der Verlust eines dieser Schnipsel mich Unterländer zu einem strapaziösen, nicht ungefährlichen Fussmarsch übers ewige Eis zwingen würde. Dann flog man mich hoch über Gornergrat und Gornergletscher zur Neuen Monte Rosa-Hütte (MRH) des Schweizer Alpenclubs (SAC), einem von mehreren Jubiläumsprojekten, die sich die ETH-Zürich anlässlich ihres 150. Geburtstags leistete.

Verschiedene Abteilungen der ETH beteiligten sich. Ziel war eine fast vollständig energieautarke Berghütte, die auch unter oft widrigen Bedingungen Ver- und Entsorgung selbstständig gewährleisten kann. Konzipiert als Forschungsprojekt, sollte die MRH Erkenntnisse zu Themen liefern, welche für die Bauwirtschaft vor dem Hintergrund des Wandels hinsichtlich Energieerzeugung und -konsum von hoher Relevanz waren und es heute mehr denn je sind. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU), eine der zahlreichen staatlichen wie nichtstaatlichen Instanzen, welche das Projekt begleiteten und unterstützten, fasste die wichtigsten Punkt im September 2009 zusammen. In Kurzform: Die MRH soll sich zu mindestens 90 Prozent selbst mit Energie versorgen.

Das Wasser fliesst, der Kreislauf funktioniert. (Foto: David Schweizer)
Im Schatten der Aufmerksamkeit

Der runde Geburtstag der MRH-Eröffnung, die einst gross gefeiert wurde, war ein veritabler medialer none event. Informationen sind dünn gesät, auch das Internet scheint wie leergefegt. Die ETH betreibt noch immer die Website neuemonterosahuette.ch. Diese ist allerdings nur noch ein digitales Fotoalbum aus der Entstehungs- und Eröffnungszeit, sie bietet keine weiteren Informationen mehr über Planung oder Betrieb. Schlagzeilen machte im Jahr 2010 ein Helikopterunfall, bei dem der Pilot verletzt wurde und einige Photovoltaik-Module der Südfassade in die Brüche gingen. Auch über einen Run auf die Hütte und deren Überbelegung konnte man da und dort Berichte lesen – darüber, dass sie und insbesondere ihr Nachhaltigkeitskonzept quasi Opfer ihres grossen Bekanntheitsgrads wurden.

Werbung für die Hütte brauchte also nicht gemacht zu werden – für Eigentümer und Betreiber war sie vielleicht angesichts des Publikumsansturms sogar unerwünscht. Aber ob sich die technischen Innovationen bewähren und die gesetzten Ziele erreicht werden, hätte wohl manche wundergenommen. Es brauchte die Initiative des stellvertretenden Chefredaktors von TEC21, bis diesbezüglich Informationen an die Öffentlichkeit gelangten; «Monte Rosa-Hütte: 80 % Inselversorgung», lautete der Titel des Beitrags von Paul Knüsel vom Dezember 2015. Er setzte sich darin mit den technischen Adjustierungsmassnahmen auseinander, die nach den ersten Betriebsjahren erfolgten und von denen namentlich Kläranlage und Stromversorgung betroffen waren. Zum Beispiel berichtete Knüsel von der Installation einer zusätzlichen Photovoltaikanlage ausserhalb des Gebäudes. 

Mit dem Bericht über diese Massnahmen lieferte die MRH die bisher letzten Schlagzeilen. «No news is good news», könnte man sagen. Jedenfalls macht es den Anschein, dass in der Gletscherwelt jenseits des Gornertgrats der Alltag eingekehrt ist. Für die Hütte zumindest; die Stiftung MyClimate führt sie als «Klimaschutzprojekt». Sie liess die Kohlendioxideinsparungen von der Société Générale de Surveillance (SGS) prüfen. Diese ermittelte und zertifizierte in ihren greenhouse gas calculations für die Zeitperiode vom 1. Januar 2013 bis 31. Dezember 2016 eine Emissionsreduktion von 153,47 Tonnen CO₂ₑ. 

Umher sieht anders aus: Der Hüttenzustieg musste diesen Sommer neu angelegt werden. «Grund sind der Klimawandel und die Gletscher, die sich immer schneller verändern», schreibt der SAC auf seiner Website. Der Zustand des alten Weges hatte sich zusehends verschlechtert. Vor allem die Abschnitte über den Gletscher mussten häufig – bisweilen wöchentlich – angepasst werden, für den SAC eine kostspielige Sisyphusarbeit. Der neue, weiter oben geführte Zustieg gibt einen herrlichen Blick über das Alpenpanorama mit der Hütte im Blickfeld frei.

Die Hütte hat keinen Kamin – gekocht wird trotzdem. (Foto: David Schweizer)
Zeit der Pragmatik

Das Projekt hat viele Väter, Hebammen und Nannys. Ich habe mich bei einigen der Beteiligten und immer noch Involvierten nach der Bedeutung der MRH für sie persönlich und für den Diskurs erkundigt. Meine Nachfragen waren willkommen, die Bereitschaft zu einer kurzen Stellungnahme gross. Der Stolz auf die Hütte schien durch. Es wurde schnell deutlich, dass das Projekt MRH eine Angelegenheit des Homo Faber ist: Hier wird gemacht und nicht gefeiert!

Peter Planche ist beim SAC seit der MRH-Eröffnung Hüttenchef. «Drei verschiedene Hüttenwarte habe ich betreut und arbeite zur Zeit einen Nachfolger ein», meldet er. Sein Kommentar zu den vergangenen zehn Jahren: «Die budgetierten Besucherzahlen konnten nicht ganz erreicht werden. Wir hatten vor der Erstellung 6'000 bis 7'000 Personen eingerechnet, 50 Prozent mehr als in der alten Hütte. In den ersten Jahren verzeichneten wir 11'000 Übernachtungen, sie sind dann sukzessive zurückgegangen auf 5'000. Dieses Jahr stiegen sie wieder leicht auf 6'000. Die Kunden ändern sich; Alpinisten gehen zurück, dagegen verzeichnen wir eine Zunahme bei den Wanderern.» Den Umgang mit dem Objekt fasst er als Bauherrenvertreter so zusammen: «Die moderne Technik verlangt mehr Unterhalt.»

Matthias Sulzer ist Gebäudetechnikingenieur und Verwaltungsrat der Lauber IWISA AG, daneben leitet er das Schweizer Kompetenzzentrum für Energieforschung – Gebäude und Areale (SCCER-FEEBD) der Empa. Er begleitete das Projekt in der Forschungs- und Planungsphase, Lauber IWISA führte die Betriebsoptimierung nach den ersten Jahren durch und ist bis heute für Wartung und Unterhalt der Gebäudetechnik zuständig. Sulzer sagte mir zweierlei: «Es ist ganz normal bei einem Projekt dieser Komplexität, dass es eine bis zwei Saisons braucht, bis die Parameter für den Betrieb richtig eingestellt sind, sodass es die Erwartungen erfüllt. Die Monte Rosa-Hütte ist ein Extremfall, auch von den klimatischen Bedingungen her. Mit dem Konzept sind wir an die Grenzen gegangen.» Teile davon erwiesen sich für die MRH als wenig nützlich oder überflüssig: «Das vorausschauende Energiemanagement konnte die Erwartungen nicht voll erfüllen, das wurde nicht mehr weiter verfolgt.» Er betont, dass ein solches bei anderen Projekten aber durchaus sinnvoll sein kann. Eine konkrete Vorbildfunktion der MRH erkennt er für die Planung anderer Berghütten: «Beim Umbau der Hörnlihütte können wir von den gemachten Erfahrungen sehr profitieren.» Aktuell werde geprüft, ob die Batterie ausgewechselt werden muss. Bei einigen Photovoltaikmodulen stelle man Verfärbungen fest – ein Problem der Ästhetik, nicht der Leistung. In den nächsten Monaten solle entschieden werden, ob diese ersetzt werden. Die untere Reihe der nachträglich installierten Module an der Westseite habe der Schnee beschädigt. «Es ist möglich, dass wir die gar nicht mehr ersetzen», meinte Sulzer im Gespräch, denn durch den Rückgang der anfangs überbordenden Besuchszahlen seien diese nicht mehr nötig.

Das architektonische Konzept hat sich als nachhaltig funktionstüchtig erwiesen. (Foto: David Schweizer)
Positive Bilanz

Professor Andrea Deplazes von der Architekturabteilung der ETH Zürich (DARCH) nahm die Rolle der koordinierenden Kraft ein und hat auch zehn Jahre nach der Eröffnung das Gesamtprojekt im Blick. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass das architektonische Konzept von keiner Seite kritisiert wird und gut funktioniert. Die Hütte sieht heute genau so aus, wie sie einst geplant wurde. Die schwankende Belegung und die technischen Änderungen sind spurlos an ihr vorübergegangen – auch der angesprochene Helikopterunfall hinterliess keine dauerhafte Schrammen. In diesem Sinne erscheint das Abenteuer MRH sowohl als Projekt wie auch hinsichtlich der Kompetenzverteilung im Planungs- und Betreuungsteam ein schlagendes Argument dafür, dass es Architekt*innen als leitende, koordinierende Instanz immer noch braucht.

Rückblickend erläutert Deplazes das Engagement der ETH nach der Eröffnung so: «Die laufende Performance der MRH wurde von der ETH, speziell durch Professor Lino Guzzella verfolgt, bis sich die gewünschte Autarkie eingependelt hatte. Mit seiner Ernennung zum ETH-Präsidenten im Jahr 2012 wurde dieses Monitoring eingestellt.» Ziel des Projekts sei es für die ETH gewesen, dezentrale Systeme für die Energiegewinnung und -versorgung wie auch für die Entsorgung von Grau- und Schmutzwasser zu entwickeln, die dann ebenso im urbanen Kontext eingesetzt werden könnten. «Die Bedeutung der MRH und weiterer Case Studies besteht eben genau darin, die Forschung nach aussen hin sichtbar zu machen und die Anwendung neuester Erkenntnisse aus der Forschung so testen und verständlich machen zu können. Insofern hat sich der Sinn des MR-Projekts über die Erwartungen erfüllt, aber vorläufig auch etwas erschöpft.»

Die MRH hat einen wichtigen Impuls zur Gründung des ITA (Institut für Technologie in der Architektur) am DARCH gegeben. «Daher sind auch die Themen Nachhaltigkeit, ressourcenschonendes Bauen und Energieeffizienz zum festen Bestandteil in der heutigen ETH-Ausbildung am Architekturdepartement geworden», meint Deplazes. Die Hütte leiste einen wichtigen Beitrag zur Auseinandersetzung mit der versorgungstechnischen Autarkie von Bauwerken. Diverse technische Systeme liessen sich in der ersten Betriebsphase perfektionieren, selbst die etwas in die Kritik geratene Minikläranlage. «Aus der Sicht eines Unternehmers wären wir jetzt bei der Produktionsreife», so Deplazes. Auch konstruktiv konnte man neue Einsichten gewinnen: Die Hinterlüftung von Photovoltaik-Modulen muss bedeutend grösser dimensioniert werden als bei konventionellen Fassadenaufbauten dieses Typs, weiss man jetzt.

Befragt zu seiner persönlichen Beziehung zum Projekt, meint Deplazes: «Mit meinem Architekturbüro bin ich in einer Art Doppelrolle: Auf der einen Seite entwickelte mein Lehrstuhl das architektonische Projekt. Als es um die Realisierung ging, bildeten wir ein Projektteam in meinem Büro, das auch die entsprechenden Garantieleistung erbringen kann.» Dieses Projektteam unter der Leitung von Deplazes' Büropartner Daniel Ladner existiert fort und steht dem SAC beratend zur Seite – zusammen mit dem Zermatter Architekten Hans Zurniwen, der von Anfang an die Umsetzung betreute, sowie den Gebäudetechnikplaner*innen von Lauber IWISA AG.

Zum aktuellen Betrieb meint Deplazes: «Das Gleichgewicht zwischen der Auslegung und Kapazität der Anlagen und den prognostizierten Besucherzahlen hat sich endlich soweit ausbalanciert, dass sich mit den vorhandenen Anlagen die Zielsetzung der 90 prozentigen Autarkie erreichen lässt. Es gibt sogar noch einen sogenannten Wärmeüberschuss durch passiv-solare Gewinne aus den genau zu diesem Zweck angelegten Fensterbändern des peripher angeordneten Treppenhauses, der durch den Wärmetauscher genutzt werden kann.» Im August dieses Jahres besuchte das Betreuungsteam die Hütte und unternahm einen Augenschein. Es ergab sich eine kurze, mit der Bauherrschaft noch nicht besprochene «Mängelliste», in der auch die von Matthias Sulzer erwähnten Photovoltaik-Module und die Batterie aufgeführt sind.

Die insgesamt unerheblichen «Mängel» betreffen einerseits den Fortschritt der Technik, andererseits deren Alterung. «Nach zehn Jahren zeigt sich, dass Planung und Umsetzung gut waren», so Deplazes, «das Projekt erfährt die täglichen Nutzungen und die Abnutzung im Gebrauch als SAC-Hütte. Dies gibt auch Aufschluss über das Langzeitverhalten. Gut möglich, dass sich die ETH beziehungsweise ihr Institut für Technologie in der Architektur wieder einschalten wird, um ein neues Forschungsprojekt Monte Rosa zu starten.» Denkbar wäre ein Test neuster Photovoltaik-, Hybrid-Technik oder eines optimierten Kläranlagen-Moduls. «Man könnte auch die Themen vollständigen Autarkie, Versorgung mit Nahrung vor Ort und Zero Waste angehen, was Erweiterungsbauten zur Folge hätte.» Aktuell sei aber noch nichts Konkretes in diese Richtung geplant, denn nach zehn Jahren hätten sich die Systeme noch nicht erschöpft.

Foto: David Schweizer
Ein Projekt und seine Breitenwirkung

Zwar wird im Rahmen von Fridays for Future den «Alten» gerne vorgehalten, sie hätten in Sachen Klimanotstand geschlafen, dem allerdings ist entgegenzuhalten, dass sich in den vergangenen dreissig Jahren in Sachen Energieeffizienz und CO₂-Reduktion zumindest bei der technischen Entwicklung einiges getan hat. Die realisierten energetischen «Hochleistungsbauten» werden allerdings oft wahrgenommen als Liebhabereien von Forsch*innen, Fachkräften und engagierten Bauherrschaften, denen eine überzeugende Breitenwirkung fehlt. Leider steht die MRH geradezu exemplarisch für diese Tendenz. Eine Berghütte auf 2'883 Metern ist eine Spezialaufgabe. Der Alpinismus ist hinsichtlich seiner Folgen für die Umwelt problembehaftet; vielleicht hielte man sich aus dem Hochgebirge besser fern. Andrea Deplazes sieht das allerdings anders: «Wäre die MRH im Tal gebaut worden, dann wären die Studierenden nie auf die Lösungen gestossen, wie sie im Projekt verwirklicht wurden; die Insellage hat sozusagen einen künstlichen Notstand ausgelöst, und Not macht bekanntlich erfinderisch!»

Die MRH hat eine positive emblematische Wirkung – mit der Architektur als Botschafterin für den mit ihr abgestimmten technischen Inhalt. «Auch im Winter, wenn die Hütte geschlossen ist, hat es viele Touristen, die vom Gornergrat nach ihr suchen», sagt Peter Planche, «je nach Sonneneinstrahlung sieht man sie gut.» Die Hütte setzt also ein Zeichen – wenn vielleicht auch ein mahnendes.

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