Eine pädagogisch initiierte Frischluft-Kur
Inge Beckel
2. febrero 2017
Ausbuchtung mit begrünter Vertikalerschliessung. Bild: ©Schneider Studer Primas Architekten
Der Siegerentwurf für den Ersatzneubau des Oberstufenschulhauses Wallrüti in Winterthur wurde vergangenen Herbst öffentlich präsentiert: ein radikales Projekt, das durch die gänzliche Verlegung der Erschliessungen nach aussen – unbeheizt – besticht.
Wir haben das Projekt der Architekten Schneider Studer Primas aus Zürich, unterstützt von Kolb Landschaftsarchitektur und Schnetzer Puskas Bauingenieure, am 15. November 2016 in einer Meldung bereits vorgestellt.
Bei diesem Schulhausneubau, der einen Corten-Stahlbau
von 1974 ersetzen wird, handelt es sich um einen länglichen, rechteckigen, dreigeschossigen und flach eingedeckten Baukörper. Die pro Geschoss 16 Raumeinheiten orientieren sich hälftig nach Westen und nach Osten. Wobei je nach Nutzung Trennwände entweder weggelassen – zum Beispiel im Bereich vom Foyer oder von der Biblio- respektive Mediathek – oder zusätzliche hineingestellt werden, so für die Gruppenräume. Dieses komprimierte Paket von insgesamt 28 Klassenräumen und ebenso vielen Gruppenräumen macht das beschriebene längliche Rechteck des – beheizten – Schulhauses aus. Demgegenüber liegen sowohl die Horizontalerschliessungen der drei Niveaus als auch jene in der Vertikalen ausserhalb des eigentlichen Raumkörpers. Es sind offene Kränze von Laubengängen, die sämtliche vier Fassaden aller Geschosse umschliessen.
Auf dem Laubengang. Bild: ©Schneider Studer Primas Architekten
Zwei kleinere Rundungen mit einer Wendeltreppe, eine in der Südwest-Ecke und eine in der Nordost-Ecke, sowie zwei grössere, wiederum als Rundungen ausformulierte Ausbuchtungen gegen Westen und Osten beherbergen die Vertikalerschliessungen. Die Aussenwände der Klassenzimmer sind vollflächig verglast gedacht, die äussere Schicht der Laubengänge als Gitter für eine Begrünung geplant, vergleichbar dem MFO-Park in Zürich, so die Referenz der Architekten. Innerhalb der zwei grossen seitlichen Erschliessungsplattformen sollen Bäume wachsen können. Es handelt sich damit also um ein kubisches, beheizbares «Glashaus» im Innern – sinngemäss mit einem dreigeschossigen Stapel aus 48 Containern vergleichbar –, das von einer aussen ondulierten, unbeheizten, begrünten Raumschicht umhüllt wird.
Kleiner Exkurs in die Schulhausbau-Geschichte
Die Schweiz kennt den für alle Kinder obligatorischen, unentgeltlichen und bekenntnisunabhängigen Unterricht seit 1874. Die Schulhäuser der vorletzten Jahrhundertwende waren meist kompakte, zwei- oder dreigeschossige Baukörper von monumentalem Charakter. Der noch junge Bundesstaat war stolz auf die Reformen, die den Zugang zur Bildung für alle Kinder geschaffen hatten. Und die dafür neu geschaffenen Bauten durften, ja sollten dies repräsentieren! In der Zwischenkriegszeit im 20. Jahrhundert rückte dann der Fokus auf die Kinder, die eigentlichen Nutzer. Die Schulhäuser, vor allem jene für Primarschulen, wurden oft zu eingeschossigen so genannten Pavillonschulen. Die Schlagworte der Moderne von Licht, Luft und Sonne sollten der Gesundheit der Kinder dienen.
Regelgeschoss, Ausschnitt. Bild: ©Schneider Studer Primas Architekten
In der Zeit nach 1945 wurden Schulbauten wieder grösser und ihre Einbettung in die Gesellschaft wichtiger. Aus Zürich seien exemplarisch die Kantonsschulhäuser Freudenberg (1956–60) von Jacques Schader und Rämibühl von Eduard Neuenschwander (1960–70) erwähnt. Während Schader seinen Bau, einer Akropolis gleich, als eine Art Krone auf die Hügelkuppe setzt und erneut seine gesellschaftliche Relevanz unterstreicht, bettet Neuenschwander sein Schulensemble in die es umgebende Natur ein und folgt nunmehr der nordischen Tradition eines Alvar Aalto. Im Nachgang von 1968 wurden die Gebäude vermehrt auch ausserschulisch genutzt und mit Mehrzweckbauten kombiniert, man denke etwa an Ernst Gisels Schulzentrum Mühleholz (1970–73) in Vaduz.
Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts rückten erneut Kinder und Jugendliche betreffende Überlegungen in den Vordergrund – also pädagogische Vorstellungen. Etwa über die wohl flächendeckende Einführung von Gruppenräumen, womit spezifischer auf individuelle Bedürfnisse einzelner Schülerinnen und Schüler eingegangen werden kann. Oder mit dem Modell Gesamtschule. So wurde im Kanton Zürich im Jahre 2003 mit der Schule in der Höh in Volketswil von Gafner Horisberger Architekten erstmals eine solche eröffnet, worin nicht nur vom Kindergarten bis zur Sekundarstufe, sondern auf letzterer in niveau- und abteilungsdurchmischten Klassen unterrichtet wird. Um 2000 aber sollten brandschutztechnische, also bauliche Vorgaben wieder an Gewicht gewinnen.
Fassadenansicht mit Laubengängen. Bild: ©Schneider Studer Primas Architekten
Mehr Bewegung im Freien
In Schulhaus im Birch (2000–04) in Zürich beispielsweise gruppieren Peter Märkli und Gody Kühnis drei bis vier Schulzimmer um einen gemeinsamen Raum. Diese Cluster-Setzung stellt sinngemäss eine frühe Variante jener Typologie dar, die die Anzahl der Fluchtmöglichkeiten im Brandfall erhöht. So ist das Treppenhaus vom erwähnten zentralen Raum auch über eine raumhaltige Fassadenschicht zu erreichen. Schneider Studer Primas haben das dort angedachte Prinzip, so könnte man sagen, radikalisiert. Im Innern verzichten sie nunmehr grundsätzlich auf Gänge und erschliessen alle Räume von aussen. Was massiv Kosten spart, benötigt das Projekt gegenüber seinen Konkurrenten doch rund einen Drittel weniger beheizte Fläche. Auch der Verzicht auf die Lüftungsanlage spart nicht nur Kosten, sondern erneut auch Fläche.
Mit der Erschliessung, die gänzlich im Freien liegt, erfüllen Schneider Studer Primas neben dem vorgegebenen Kostenkorsett aber eine weitere Vorgabe: Denn es war ein expliziter Wunsch der Auftraggeber, die Jugendlichen zu mehr Bewegung im Freien zu animieren! Wer das Werk der Architekten kennt, den überraschen die rot gezeichneten Treppen und Stege nicht, haben sie bei der mehrfach ausgezeichneten Siedlung Zwicky Süd doch Vergleichbares bereits realisiert. Der Ersatzneubau Wallrüti ist städtebaulich folglich in die Tradition der kompakten Schulhausbauten von Ende des 19. Jahrhunderts zu setzen. Formal aber ist er als moderne Freiluftschule – oder sinngemäss als Frischluft-Kur – ausgestaltet, die, im Sinne des frühen 21. Jahrhunderts, mit Pflanzen angereichert wird. Ein erstaunlich innovatives wie zeitgemässes Projekt.