Die Rückeroberung des öffentlichen Raums
Gesa Loschwitz
14. julio 2016
Collage des «Radschnellwegs Ruhr». Bild: Orange edge, Hamburg, im Auftrag des Regionalverbandes Ruhr, 2014
Es tut sich etwas in den autogerecht geplanten Städten Europas. Alternative Mobilitätskonzepte rücken das Auto aus dem Fokus und damit den öffentliche Raum für die Stadtbewohner wieder ins Blickfeld. Fünf unterschiedliche Beispiele zeigen Möglichkeiten auf.
2010 entstand die Idee, einen Radschnellweg durch das Ruhrgebiet zu legen. Damals an einem autofreien Sonntag verkehrten Fussgänger, Rollerblader und Radfahrer auf der A40 zwischen Duisburg und Dortmund. Für das dichte Städtenetz in Deutschlands Westen – der grössten Agglomeration des Landes – wäre der «Radschnellweg Ruhr» eine echte Chance: Die Autobahnen sind nahezu zu jeder Tageszeit verstopft; wir kennen das Szenario in kleinerem Massstab um Bern herum, aber auch vor praktisch jeder grösseren Stadt der Schweiz.
Die Diskussion um Mobilitätskonzepte der Zukunft läuft – hierzulande diskutiert man über Tempo 80 auf der Autobahn, in den USA verursachen die ersten Autopiloten in Teslas, oder deren Fahrer, die das System falsch verstanden haben, die ersten tödlichen Selbstunfälle und in Deutschland las man in der Süddeutschen Zeitung: «In den Zentren der technischen Avantgarde, wie dem Silicon Valley, rollt die Revolution in Form von Elektroautos schon lautlos und im großen Stil über die Straßen. Dort wird schon jenseits von Teststrecken ausgelotet, wie Menschen ihr Schicksal im Auto Computern, Instrumenten und Algorithmen anvertrauen können. (…) Dort wird nicht nur darüber nachgedacht, wie die Digitalisierung der Verkehrsströme Menschen und Regionen verändern, welche Folgen neue Konzepte wie Car-Sharing haben – und wo künftige Geschäftsmodelle liegen. Denn nicht nur fossile Antriebe, auch das Modell des Privatwagens steht vor der Ablösung.» Auch wenn Deutschland oder Europa nicht vorne dabei sind bei diesen Visionen, weisen doch einige stadtplanerische Projekte der jüngeren Zeit darauf hin, dass das Planen für Privatfahrzeuge nicht mehr im Zentrum der Stadtplanung steht.
Perspektiven des «Kleinen Kiel-Kanals», Kiel. Bild: Bgmr, yellow z urbanism architecture, Ingenieurbüro Obermeyer
Das zeigt sich zum Beispiel in Kiel: Im Rahmen eines neuen Verkehrskonzepts beschloss die Stadt, die Hauptverkehrsachse «Holstenbrücke» für Autos zu sperren. Ab 2019 werden dort nur noch Fahrräder, Busse und Taxis fahren. Wie so viele deutsche Städte hat Kiel ein klares Problem am Rand der Innenstadt: Verkehrsdominierte Ringe um die Stadtzentren sind eigentliche Trennlinien im Herzen des Stadtgefüges. Auch in Kiel war das so, doch die Stadt nimmt bereits seit Jahren den Verkehr sukzessive aus der Holstenbrücke. Dass das Zentrum von Kiel direkt am Wasser liegt, soll nun wieder mehr ins Bewusstsein rücken. Bis 1650 war das Zentrum von Kiel von Wasser umschlossen. Der Kleine Kiel, ein Meeresarm der Kieler Förde, griff bis ins Zentrum hinein. Im Laufe der Jahrhunderte wurde dieser erst zu einem oberirdischen, dann zum unterirdischen Kanal, der Ausbau des Strassensystems nach dem Zweiten Weltkrieg verdrängte ihn endgültig.
Um den «Kleinen Kiel-Kanal» wieder zu beleben, schrieb die Stadt 2012 einen Wettbewerb aus, den die Arbeitsgemeinschaft bgmr Landschaftsarchitekten (Berlin), yellow z urbanism architecture (Berlin), und das Ingenieurbüro Obermeyer (Potsdam) für sich entschieden. Sie entwarfen eine Wasser-Platz-Folge, die bis an die Förde führt. Ihre Form und Anmutung ist jeweils unterschiedlich, doch Fluchten, Sichtbeziehungen und Material verbinden die Teilräume. Es entstehen vielfältige Aufenthaltsmöglichkeiten, aber auch eine neue Promenade, an der sich gastronomische Betriebe niederlassen sollen, um die neuen öffentlichen Räume zu «aktivieren».
Wie Kiel gehört auch Hannover zu den Städten, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Stadtplanung auf das Auto ausgerichtet haben. Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht entwarf ein damals hochgelobtes Konzept, das darauf abzielte, durch Tangenten und einen Innenstadtring das Zentrum vom Verkehr freizuhalten und gleichzeitig die Zufahrt in die Stadtteile zu erleichtern. Das Verkehrsnetz ist inzwischen in die Jahre gekommen, zahlreiche Brückenbauwerke müssen erneuert werden. Die niedersächsische Hauptstadt nahm das zum Anlass, im vergangenen Jahr einen interdisziplinären Ideenwettbewerb für einen Teilbereich des Netzes, den «Südschnellweg», auszuschreiben. Und nahm damit die Chance wahr, sich das städtebauliche und landschaftliche Gefüge noch einmal genauer anzuschauen. Hier ging es nicht wie in Kiel darum, den Verkehr herauszunehmen, sondern Verkehr städtebaulich zu integrieren. Die beiden ersten Preise (Schneider + Schumacher Architekten, BPR Verkehrsplanung und lad+ landschaftsarchitektur sowie Stadt Land Fluss Städtebau, Frank Reschke Landschaftsarchitektur und Hoffmann Leichter Ingenieurgesellschaft) favorisierten auf einem einen Kilometer langen Teilabschnitt im Stadtbereich einen Tunnel. In der Ausschreibung war die Frage eines Neubaus als Brücke, Trog oder Tunnel völlig offen gelassen worden. Das Team von Franz Reschke schafft mit dem Tunnel und den in den städtebaulichen Entwurf eingepassten Rampenbauwerken das Potenzial für ein neues Wohnquartier und für einen neuen öffentlichen Raum: eine Promenade und einen Park, die die angrenzen den Stadtbereiche miteinander verbinden.
Südschnellweg Hannover, Wettbewerbsentwurf von Stadt Land Fluss, Franz Reschke Landschaftsarchitektur, Leichter Ingenieurgesellschaft mbH. Bild: Projektverfasser
Südschnellweg Hannover, Perspektive des Parks auf dem neuen Tunnel. Bild: Projektverfasser
Das tat auch das Büro Latz + Partner im Niederländischen Emmen. Hier bot sich die Möglichkeit, einen ganzen Stadtbereich neu zu ordnen, da eine Hauptverkehrsachse und ein riesiger Parkplatz ebenfalls unter die Erde verlegt wurde. So entstand der Raadhuisplein (Rathausplatz): ein 26'400 Quadratmeter grosser Freiraum, der der Stadt zu einem neuen Mittelpunkt verhilft und sie zugleich mit der angrenzenden Landschaft verbindet. Wo sich jetzt der Rathausplatz als Natursteinteppich mit verschiedenen Intarsien zwischen Einkaufszentrum, Theater, neuem Eingang zum Zoo und Rathaus erstreckt, gab es vorher ausser dem Autoverkehr nur Parkplatz und Strasse. Mit einer raumtrennenden Fussgängerbrücke und wahllos verteilten Ausstattungselementen, war das Areal ein typischer Innenstadtrand: Erschliessungsfläche, Zwischenraum und Rückseite. Aber kein Raum für Menschen. Der Wettbewerb für die Neugestaltung des Centrumsplein, wie der Platz zum Zeitpunkt des Wettbewerbs 2013 noch hiess, änderte das. Latz + Partner gewannen mit ihrem Konzept, «harte» Stadt und «weiche» Landschaft zu verbinden. Es ist ein zugleich steinerner und grüner Platz, dessen Konzept die zahlreichen Wünsche aufnimmt, die an den neuen Freiraum gestellt wurden: In den Bodenteppich schnitten die Landschaftsarchitekten grüne Inseln, eine Skateanlage, einen Spielplatz, mehrere Wasserflächen und ein grosses Sonnendeck. Aus dem diffusen Stadtrand ist heute ein lebendiger Aufenthalts- und Erholungsort geworden.
Raadhuisplein auf dem Tunnel, Emmen (NL). Bild: Theo Berends Photography
Nicht überall lassen sich Parkplätze und Strassen unter die Erde verlegen. Nichtsdestotrotz verändert sich die Mobilität. Gerade in grossen Städten geht der Trend zum Car Sharing. Und auch der Radverkehr, wie nicht zuletzt das Beispiel aus dem Ruhrgebiet zeigt, ist neben Auto, Bahn oder Bus zumindest auf kürzeren Strecken eine ernstzunehmende Alternative. Die Chance besteht, öffentlichen Raum für die Menschen zurückzuerobern. Strassenraum als Freiraum, wie 2010 auf der A40 im Ruhrgebiet? Noch ist das eine Vision. Doch selbst in Stuttgart, der Automobilstadt schlechthin – 30 % aller Beschäftigen in der Region arbeiten in der Automobilbranche –, tut sich etwas: die Universität Stuttgart hat mit dem «Future City Lab Stuttgart» ein Reallabor für nachhaltige Mobilitätskultur ins Leben gerufen. Hier arbeiten Wissenschaft, Verwaltung, Unternehmen und die Bürger gemeinsam daran, eine neue Mobilitätskultur zu entwickeln. Ein Beispiel sind die «Parklets für Stuttgart», wofür Initiatoren und Studenten mit benachbarten Bürgervereinen oder Geschäftsinhabern kooperieren. Mit der Pflege «ihres» Parklets übernehmen die Teilnehmer Verantwortung für ihr kleines Stück öffentlichen Raum. Die Parklets erweitern den Fussweg durch die Umnutzung von Autostellplätzen zum öffentlichen Raum als Lastenrad-Garage, als offene Werkstatt, als Aufenthaltsort mit Beeten und Bänken, als Bücherei.
So unterschiedlich die Beispiele sind, sie zeigen: Auch wenn Aktionen wie die Autobahn für Fussgänger im Ruhrgebiet einmalig bleiben werden – das Auto rückt aus dem Fokus, und damit der öffentliche Raum für die Stadtbewohner endlich wieder ins Blickfeld.
Dieser Text erschien in etwas anderer Form zu Beginn der Velo-Saison bei German-Architects. Die Autorin Gesa Loschwitz-Himmel ist Landschaftsarchitektin und freie Autorin. Sie arbeitete lange Jahre als Redakteurin für die Zeitschriften Garten + Landschaft, Zeitschrift für Landschaftsarchitektur, und Topos, International Review for Landscape Architecture.