In Lissabon wird Zukunft greifbar
Susanna Koeberle
6. octubre 2022
Die Installation der spanischen Künstlerin Lara Almarcegui in der Ausstellung «Cycles» besteht aus Korkstücken, die später wiederverwendet werden. (Foto © Sara Constanca)
Die sechste Architekturtriennale widmet sich dem Thema «Terra». Es geht um nichts Geringeres als die Zukunft unseres Planeten. Die vielen Projekte, die in mehreren Ausstellungen gezeigt werden, sind für die Zukunft der Architektur wegweisend.
«Terra», so der Titel der sechsten Architekturtriennale von Lissabon, sagt es bereits: Es geht nicht (nur) um hochtrabende Gedankenkonstrukte, sondern im wahrsten Sinne des Wortes um Bodenständiges, um unsere Erde nämlich. Das Wort fächert schon eine ganze Bandbreite von Bedeutungen auf. «Terra» bezeichnet in vielen romanischen Sprachen sowohl den Planeten Erde, einen ideellen Raum wie unsere Heimat, das Element Erde und das Material an sich als auch das Festland im Gegensatz zum Meer. Die beiden leitenden Kuratoren der Triennale, Cristina Veríssimo und Diogo Burnay, haben drei Jahre lang recherchiert und Praktiker*innen aus der ganzen Welt nach Lissabon eingeladen, um ihre Projekte zu präsentieren. Diese werden in vier Ausstellungen bei verschiedenen Institutionen und Museen Lissabons gezeigt. In der Zentrale im Palácio Sinel de Cordes werden zudem mehrere unabhängige Projekte ausgestellt, die unter den Einsendungen zu einem Open Call ausgewählt wurden. In der gleichen Location finden auch Vorträge und Workshops statt. Ende Oktober bringt das Format «Talk, Talk, Talk» Spezialist*innen aus aller Welt zusammen. Darunter befinden sich nicht nur Architekt*innen, sondern auch andere Stimmen wie etwa die indische Aktivistin und Globalisierungskritikerin Vandana Shiva.
Die beiden leitenden Kuratoren der Triennale sind Cristina Veríssimo und Diogo Burnay. (Foto © Eliza Borkowska)
Cristina Veríssimo und Diogo Burnay fokussieren weniger auf Bauten im engeren Sinne; ihr Interesse gilt zum einen den Bedingungen von Architektur, also den materiellen Ressourcen, zum anderen den Menschen, also den Nutzer*innen von architektonischen Infrastrukturen. Zu Letzteren gehören eben auch nicht-professionelle Gemeinschaften, welche die gebaute Umwelt – in erster Linie den urbanen Raum – ebenso stark formen. Paradoxerweise zeigt die Globalisierung, dass Lösungen für die aktuellen Krisen und Katastrophen (im Plural) nur lokal gefunden werden können. Veríssimo und Burnay verstehen Städte nicht als Maschinen, sondern als Organismen, in denen verschiedene Disziplinen und Wissensformen miteinander interagieren können. Erst diese Formen der Vernetzung können bestehende Strukturen verändern.
Bei ihrer Recherche sei ihnen aufgefallen, dass viele interessante Ansätze aus Südamerika stammen würden, sagt Cristina Veríssimo im Gespräch. Dort sei es eher erlaubt, zu experimentieren und Fehler zu machen. Das liege wohl auch an der mangelnden Regulation, die sie in diesem Fall als positiven Nebeneffekt vieler Metropolen sieht. Gleich zwei kuratorische Teams stammen aus Südamerika, nämlich Loreta Castro Reguera und José Pablo Ambrosi aus Mexiko City, die «Retroactive» kuratiert haben, sowie Pamela Prado und Pedro Ignacio Alonso aus Chile, die «Cycles» verantworten. Den zwei Ausstellungen gemeinsam sind ein interdisziplinärer Ansatz und die Sorgfalt in der szenografischen Umsetzung. Dass Botschaften nur verstanden werden, wenn man sie anschaulich kommuniziert, ist eine Lektion, die auch in zeitgenössischen Architekturausstellungen angekommen ist. In den Triennale-Beiträgen stehen künstlerische Ansätze sowie Strategien aus dem Design architektonischen Projekten gleichwertig gegenüber.
Pamela Prado und Pedro Ignacio Alonso gehen mit der Schau «Cycles» den Materialien auf die Spur. Hier die Installation von Bellastock aus gefundenen Baumaterialien und Einzelteilen. (Foto © Sara Constanca)
Das beweist auch die Ausstellung «Cycles», die im Garagem Sul (Centro Cultural de Belém) gezeigt wird. Der Untertitel, der den Grundgedanken des kuratorischen Konzepts auf den Punkt bringt, stammt aus einem Text des 1933 geborenen Künstlers Ilya Kabakov: «Der Mann, der niemals etwas wegwarf» (1977) wird zum «Architekten, der niemals etwas wegwarf». Prado und Alonso lesen diese rührende Geschichte als Aufruf an ihre eigene Gilde. So wie der Mann im Text nicht mehr zwischen wichtigen und unwichtigen Abfällen unterscheiden kann – und will – und deswegen jedes Stück Materie als gleichwertigen Bestandteil seiner Existenz aufbewahrt, sollten auch Architekt*innen agieren.
Die Kurator*innen hinterfragen selbst den Begriff Abfall als solchen: Denn sobald beim Bauen etwas wiederverwendet, also recycelt wird, könne man in ihren Augen nicht mehr von Abfallstoffen als Ressource sprechen. Diese Begrifflichkeit gehe in der Architektur nämlich häufig mit einer Banalisierung oder einer falschen Ästhetisierung des Begriffs Nachhaltigkeit einher. Das Wort Abfall suggeriert zudem, dass etwas verschwindet, was ja nicht der Fall ist. Materie bleibt auf diesem Planeten, Architektur ist gleichsam nur ein Zwischenstadium in einem Transformationszyklus. Es geht eben um Kreisläufe, um «Cycles». Prado und Alonso gehen der Materie als solcher auf die Spur, sie wollen mit den ausgestellten Projekten zeigen, wie diese Umwandlungen geschehen. Das tun sie mitunter auch, indem sie das Medium Kunst nutzen.
Die begehbare temporäre Installation «The Red Greenhouse» des chilenischen Künstlers Patrick Hamilton. (Foto: Susanna Koeberle)
Gleich im Hof des Museums treffen Besucher*innen auf «The Red Greenhouse», ein rotes Gewächshaus des chilenischen Künstlers Patrick Hamilton. Die begehbare temporäre Installation arbeitet mit einfachen Mitteln, nämlich der Verfremdung unserer Wahrnehmung und der bekannten Metapher des «Greenhouse» (Treibhaus). Die Farbe Rot suggeriert Hitze und Gefahr. Aus dem Inneren des Baus sehen wir quasi, in welchem Zustand sich unsere Erde befindet.
Eine andere simple, aber nicht banale Installation befindet sich im Inneren der Ausstellung. Die spanische Künstlerin Lara Almarcegui hat eigens für «Cycles» die Arbeit «Falca» konzipiert, die aus einer riesigen Anhäufung von Korkstücken besteht. Solche Haufen sind ein wiederkehrendes Motiv in der Praxis der Künstlerin. Mit ihrer Arbeit widerspricht sie auch der Vorstellung vieler Architekt*innen, dass «ihre» Architektur aus der Luft zwischen den Wänden bestehe, aus dem ominösen «Raum». Almarcegui hingegen lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die schiere Materialität von Gebautem; ebenso auf die Tatsache, dass wir Haufen meist als etwas Niederes und Formloses betrachten. Mit der Übersetzung dieser «terrains vagues» in Kunst macht sie Unsichtbares sichtbar. Für ihre Arbeit fiel die Wahl auf Kork, denn das in Portugal traditionell gewonnene organische Material wird unter anderem zur Isolation und im Zement verwendet. Nach der Ausstellung werden die Korkstücke wieder in einen Produktionszyklus überführt.
Der Extraktion von Materialien geht auch die Recherche «Material world» der Architektin Charlotte Malterre-Barthes nach. In vier Filmen, die anlässlich eines Seminars an der Harvard Graduate School of Design entstanden, werden die Lieferketten von häufigen Baumaterialien nachgezeichnet: Holz, Erde, Stahl und Beton. Die Arbeit führt überdies vor, wie viel menschliche Arbeit hinter der Gewinnung und Verarbeitung von Werkstoffen steckt. Das Aufdecken des Zusammenwirkens von politischen und historischen Kontexten öffnet die Augen für die multiplen Implikationen unserer materiellen Welt. Wissen wir eigentlich, woraus unsere Häuser bestehen? Oder woher die Materialien dafür stammen? In den seltensten Fällen. Diesbezüglich ist noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten, auch unter Architekt*innen. Die schlichte Szenografie von rar.studio trägt viel zum Gelingen der Schau bei. Das Publikum begegnet den Arbeiten nicht als abstrakte Artefakte, sondern kann auf verschiedenen Ebenen in die Materie eintauchen. Diese Unmittelbarkeit ist Teil des Lerneffekts, den diese Ausstellung haben kann.
Im ersten Teil von «Retroactive» werden Besucher*innen durch Filme in die Thematik eingeführt. (Foto © Sara Constanca)
Als Handlungsaufruf verstehen auch Loreta Castro Reguera und José Pablo Ambrosi ihre Ausstellung, die im 2016 eröffneten MAAT (Museu Arte Arquitetura e Tecnologia) stattfindet. «Retroactive» ging aus einer Recherche zu verschiedenen Strategien von bedürftigen Gemeinschaften in Städten hervor. Mehr als die Hälfte der Menschheit lebt in urbanen Räumen, davon ein Drittel in sogenannten informellen Siedlungsgebieten. In diesen überbevölkerten und marginalisierten Territorien mangelt es häufig an den notwendigsten Infrastrukturen. Meist entspringen Bauten in solchen Gegenden keinem Design, sondern entstehen ohne Zutun von Profis. Die beiden praktizierenden Architekten lesen diese Orte als «Broken Cities». Genau dort, wo ein Grossteil der Weltbevölkerung lebt, müsste auch die Aufmerksamkeit ihrer Berufsgenoss*innen liegen, finden sie. Dabei gehe es auch hier nicht um das Erstellen von neuen Bauten, sondern um kleine Interventionen im Bestand, welche die Lebensqualität verbessern. Solche Projekte nennen die Kuratoren «retroactive infrastructures». Sie würden auch das transformative Potenzial von Design (nicht von Architektur notabene!) verdeutlichen, sagt Castro Reguera.
Neun zentrale Themen, die sie auch als Hashtags bezeichnen, machten sie aus, darunter Migration, Wasser, Landbesitz, Hygiene oder Gewalt. Sie luden zehn Büros ein, ihre Projekte zu präsentieren, und zeigen in der Ausstellung zugleich sieben Initiativen von Nichtregierungsorganisationen und Gemeinschaften sowie mehrere Projekte von Studierenden, die aus einem offenen Wettbewerb hervorgingen. Mit dem aus recycelten Reifen und Pflanzen bestehenden Pavillon vor dem Museum möchten sie zudem zeigen, wie einfach man öffentliche Räume verändern kann. Ein typisches Beispiel für die transdisziplinäre Arbeitsweise, die sie in der Ausstellung in den Vordergrund stellen, ist die Praxis des Büros Pico Colectivo aus Caracas. Durch die Verwandlung und Umnutzung existierender Strukturen und Bauten schafft dessen Team einen Mehrwert für die Gemeinschaften und verändert damit das kulturelle und soziale Ökosystem. Seine Mitglieder sehen sich eher als Rebellen denn als eigentliche Architekt*innen. So entfernten sie die vorderste Schichte einer Fassade eines nicht mehr genutzten Casinos und ergänzten diese mit «parasitären» Metallstrukturen. Auf diese Weise verwandelten sie das Gebäude in ein Kulturzentrum. Einige der vorgestellten Büros – wie etwa Ooze aus den Niederlanden – arbeiten in «Broken Cities» ausserhalb ihres Landes, wobei Castro Reguera betont, dass sich dieses Phänomen mitnichten auf den globalen Süden beschränke.
Der Pavillon vor dem MAAT (Museu Arte Arquitetura e Tecnologia) verdeutlicht die These der Kuratoren. (Foto © Sara Constanca)
Die Projekte der Architekturtriennale von Lissabon verdeutlichen den Wandel im Verständnis von Architektur. Dieser geschieht auch im Bewusstsein, dass wir (momentan) nur diesen einen Planten haben. Die überschaubaren Ausstellungen liefern anschauliche und inspirierende Beispiele und schaffen auch räumlich eine besondere Erfahrung. Natürlich spielt die Atmosphäre der Stadt Lissabon dabei auch keine unwesentliche Rolle. Die Stimmung an den Eröffnungstagen unterstrich die Bedeutung von Vernetzung und Gemeinschaft. Das mehrwöchige Programm wird dies hoffentlich noch weiter stärken.