Nicole Seifert: «Die Autorin Catherine Nichols hat einen Text an 100 Agenturen geschickt, – 50-mal unter ihrem Namen, 50-mal unter einem männlichen. Als Mann bekam sie 17 positive Antworten, als Frau 2»
Elias Baumgarten
13. April 2022
Foto: Sabrina Adeline Nagel
Autorinnen werden im Literaturbetrieb marginalisiert. Nicole Seifert beschloss daher, für einige Zeit nur noch Bücher von Frauen zu lesen. Aus dem Experiment wurde eine wunderbare Entdeckungsreise. Darüber hat sie ein Buch geschrieben.
Frau Seifert, Sie haben über Jahre nur Bücher von Frauen gelesen. Voriges Jahr ist dazu Ihr Buch «Frauen Literatur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt» erschienen. Schreiben Frauen anders?
Das ist eine heikle Frage. Wenn man versucht, Literatur zwei Geschlechtern zuzuordnen, was in sich schon problematisch ist, weil es einer binären Logik folgt, wird es schnell biologistisch. Marcel Reich-Ranicki, einer der bekanntesten deutschsprachigen Literaturkritiker, hat das oft gemacht. Er behauptete, Frauen läge Lyrik mehr als Männern, aber sie seien nicht in der Lage, grosse Gesellschaftsromane zu schreiben. Warum, da müsse man einen Gynäkologen konsultieren, meinte er. So möchte ich auf gar keinen Fall verstanden werden.
Aber – während meiner Arbeit an «Frauen Literatur» ist mir aufgefallen, dass Frauen Themen haben, die Männer nicht behandeln. Das Ausmass, in dem Autorinnen bis heute das Leben im Patriarchat beschreiben – mal gesellschaftskritisch, mal aber auch humorvoll –, ist enorm. Das hat mich überrascht, ich hatte das in diesem Umfang nicht erwartet.
Theodor Fontane behandelt in «Effi Briest» die Rolle der Frauen im Kaiserreich, die sich auf Jungfrau, Ehefrau und Mutter beschränkte, Gabriele Reuter in «Aus guter Familie» ebenso. Die Geschichten ähneln sich. Doch während «Effi Briest» heute Schullektüre ist, ist Gabriele Reuter nur Literaturexpert*innen bekannt. Warum?
Das ist ein sehr interessanter Fall, der von der feministischen Literaturwissenschaft eingehend untersucht wurde. Die Bücher sind im selben Jahr erschienen, und beide waren riesige Erfolge. «Aus guter Familie» war sogar ein richtiges Kultbuch, das in vielen Auflagen erschien. Etliche wichtige Autoren der damaligen Zeit, Thomas Mann etwa, haben Gabriele Reuter sehr verehrt. Es gab lobende Kritiken, doch leider vor allem in Frauenzeitschriften. Das Buch erhielt von Anfang an den Stempel «Frauenliteratur» aufgedrückt. Darum bekam Gabriele Reuter anders als Fontane nie eine Gesamtausgabe. «Aus guter Familie» wurde irgendwann nicht mehr aufgelegt und geriet in Vergessenheit.
Meiner Meinung nach ist Gabriele Reuters Buch im Off verschwunden, weil sie viel weniger gefällig schreibt als Fontane. Ihr Buch ist eher naturalistisch. Es werden verschiedene gesellschaftliche Abgründe, etwa die Armut der Arbeiterklasse oder die Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern, schonungslos beleuchtet. Zwar muss auch Effi am Ende sterben, aber irgendwie scheint dennoch alles seine Richtigkeit zu haben, sie nimmt alle Schuld auf sich. Gabriele Reuter benennt dagegen sehr klar, wer auf wessen Kosten lebt. Ihr Buch kann man nicht zuklappen und meinen, alles sei in Ordnung, was bei «Effi Briest» ja möglich ist. Sie übt Gesellschaftskritik, die nicht in die vorherrschende Weltsicht integrierbar ist. Übrigens ist das bei vielen hervorragenden Büchern der Fall, die nicht kanonisiert wurden und es nicht auf die Lehrpläne geschafft haben.
Während Kritiker Romane von Frauen also häufig als trivial abtun, war Gabriele Reuter zu progressiv und zu anspruchsvoll, um erfolgreich zu sein.
Sie teilt das Schicksal vieler Autorinnen bis heute: Was sie in ihren Romanen an Innovativem geleistet hat, wurde nicht als solches erkannt oder wertgeschätzt. Stattdessen wurde sie auf vermeintlich rein weibliche Themen reduziert, die in der Literaturkritik als weniger wichtig angesehen werden.
Autorinnen scheitern also am Geschlecht, nicht an der Qualität.
Es gibt dazu einen ziemlich unglaublichen Selbstversuch: Die US-amerikanische Autorin Catherine Nichols hat einen Text an 100 Agenturen geschickt, – 50-mal unter ihrem Namen, 50-mal unter einem männlichen. Als Mann bekam sie 17 positive Antworten, als Frau 2 – für denselben Text.
Und wie wurden die vielen Absagen begründet?
Es hiess, alles sei ganz nett, doch es reiche nicht. Der vermeintliche Mann hingegen hat für denselben Text Lobeshymnen erhalten.
Das zeigt sehr deutlich, dass geschlechtsspezifische Vorurteile noch weit verbreitet sind, was auch in anderen Studien nachgewiesen wurde. Wir alle – und ich meine wirklich alle, nicht nur die Männer – müssen uns klarmachen, mit welchen Stereotypen wir aufgewachsen sind, die nach wie vor in unseren Köpfen herumspuken.
Nicole Seifert, «Frauen Literatur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt», Kiepenheuer&Witsch, 2021 (Foto: Elias Baumgarten)
Foto: Elias Baumgarten
Wenn Frauen mit ihren Manuskripten trotzdem Erfolg haben, werden sie dann von den Verlagen anders vermarktet?
Das berichten tatsächlich viele Autorinnen. Frauen kaufen nachweislich mehr Bücher als Männer. Ich beobachte, dass – vielleicht, um eine möglichst grosse Zielgruppe zu erreichen – literarisch anspruchsvolle Bücher von Autorinnen über die Gestaltung des Covers herabgestuft werden. Sie werden ein bisschen wie Unterhaltungsliteratur aufgemacht, wenn der Inhalt das auch nur ansatzweise hergibt. Ein Beispiel ist die Pulitzer-Preisträgerin Elizabeth Strout. Ihre Bücher haben oft liebliche Cover, auf denen zum Beispiel eine Frau aufs Meer blickt. Ich weiss nicht, ob man sich als Mann davon angesprochen fühlt und das Buch kauft. In den Vereinigten Staaten ist man diesbezüglich weiter. US-amerikanische literarische Autorinnen achten darauf, wie ihre männlichen Kollegen grafische Cover zu bekommen, um eben nicht in die «Frauenecke» zu geraten und dafür zu sorgen, dass auch Männer ihre Bücher kaufen und lesen.
Wichtig für den Erfolg eines Buches ist, wie es besprochen wird. Insa Wilke sagt, Kritiker würden mit den Werken von Frauen oft härter ins Gericht gehen. In der Architekturkritik ist mir bisher nicht aufgefallen, dass Bauten abgewertet werden, weil sie von Architektinnen stammen. Aber ich erinnere mich beispielsweise an eine Kontroverse um unglückliche Formulierungen: Als beim wichtigsten Schweizer Nachwuchspreis, dem Foundation Award, die ersten drei Plätze an Frauen beziehungsweise an Teams mit weiblicher Beteiligung gingen, hiess es in einem mit «Damenwahl» überschriebenen Artikel, das sei kein Wunder, denn die Männer seien in der Jury in der Minderzahl gewesen. Später stellte der Autor richtig, der von ihm suggerierte kausale Zusammenhang zwischen dem Geschlechterverhältnis in der Jury und in den ausgezeichneten Büros sei falsch.
Mit Architekturkritik kenne ich mich natürlich nicht aus. Dazu kann ich nichts sagen. Ich fände aber spannend zu untersuchen, ob Bauten von Architektinnen und Architekten wirklich gleich besprochen werden. Man muss genau hinsehen. In der Literaturkritik sagt mittlerweile auch niemand mehr, «sie kann das nicht, weil sie eine Frau ist» wie Reich-Ranicki. Abgewertet wird heute viel subtiler.
Wobei es nicht sonderlich subtil ist, wenn man sich in einer Kritik mit dem Aussehen einer Autorin befasst, statt sich auf ihr Werk zu konzentrieren.
Das ist richtig. Dieses Phänomen zieht sich durch die komplette Rezeption von weiblicher Literatur. Es hat Tradition, die Autorin und ihre Biografie zu bewerten. Bis heute beklagen sich Autorinnen darüber, dass sie Fragen nach ihrem Leben und ihren Kindern gestellt bekommen – wie zum Beispiel auch Politikerinnen.
Foto: Elias Baumgarten
Gibt es auch in der Literaturkritik ein männliches Übergewicht?
Ob es insgesamt mehr Kritiker als Kritikerinnen gibt, vermag ich nicht zu sagen. Wenn wir jedoch die Schlüsselpositionen betrachten, also Chefredaktionen und Juryvorsitze, dominieren Männer. Einzelne Männer haben definitiv viel zu viel Macht. Dank Insa Wilke und dem Respekt, den sie einflösst, hat sich zuletzt aber einiges getan. Sie sitzt allein mehreren Jurys vor, was ich toll finde.
Verändern Frauen durch ihre Sicht den Literaturdiskurs?
Ich glaube, das Bewusstsein für gewisse Themen ist bei Frauen tendenziell grösser. Dazu kann ich ein Beispiel geben: Gerade habe ich eine Rezension zu Kristine Bilkaus Roman «Nebenan» geschrieben. Bisher gibt es zu dem Buch drei grössere Besprechungen von Männern. Alle drei haben nicht erkannt, dass es in diesem Roman zentral um häusliche Gewalt geht, um Gewalt, die Männer Frauen antun.
Gleichzeitig sind Verallgemeinerungen natürlich immer schwierig. Das Geschlecht bestimmt nicht allein die Perspektive. Es kommt vielmehr auf Beobachtungsgabe, Empathie und Interessen an. Leider haben erfolgreiche Kritikerinnen althergebrachte Stereotypen oft selbst sehr verinnerlicht. Nicht jede Frau ist automatisch Feministin.
In der Architektur haben wir derzeit eine besondere Situation: Zwar studieren sehr viele junge Frauen Architektur, doch die Schlüsselpositionen in den Büros, aber auch in der Forschung und der Lehre sind mehrheitlich in männlicher Hand.
Oft wird angenommen, jetzt, da die Frauen dieselbe Bildung haben und in gleichem Masse studieren, würde sich das Ungleichgewicht in der Arbeitswelt allmählich von selbst auflösen. Das ist ein Missverständnis. Und zwar nicht nur, weil die politische und die finanzielle Macht weiterhin zumeist bei den Männern liegt, sondern vor allem weil die Sorgearbeit noch immer ungleich verteilt ist. Das merkt man als Frau erst in dem Moment so richtig, da man Kinder bekommt – in der Partnerschaft wie im Beruf. Es wird dann schwierig, seine Karriere fortzusetzen und seine Fähigkeiten im selben Umfang wie vorher zu entfalten. Zwar gibt es auch Paare, die sich dessen sehr bewusst sind und bessere, gerechtere Lösungen finden, doch sie sind leider noch eine kleine Minderheit.
Doch was kann man dagegen tun?
Ein Instrument sind Quoten. Mir widerstrebten sie lange, und ein bisschen ist das immer noch so. Ich mag keine Zwangsmassnahmen. Eigentlich sollte es doch anders gehen. Aber die Erfahrung zeigt leider, dass es eben nicht anders geht. Es passiert nur dann etwas, wenn man auf Parität achtet und sie auch entschlossen durchsetzt. Lassen Sie mich ein Beispiel geben: Beim Deutschen Buchpreis sassen anfangs nur vereinzelt Frauen in der Jury. Während dieser Zeit ging die Auszeichnung fast ausschliesslich an Männer. Seit die Jury aber halbwegs paritätisch besetzt ist, kommen auch regelmässig Autorinnen zum Zug. Ich wünsche mir, dass bald auch etwa mehr People of Colour unter den Juror*innen sind. Dann dürften auch Autor*innen aus dieser Gruppe öfter gewinnen oder es zumindest auf die Listen schaffen.
Foto: Elias Baumgarten
Sie sprechen Autor*innen aus anderen Kulturkreisen an. Nicht nur Frauen, sondern noch weitere Gruppen werden im Literaturbetrieb marginalisiert. Voriges Jahr erhielt Abdulrazak Gurnah den Literaturnobelpreis; eigentlich ein gutes Zeichen. Doch es gab Kritiker, beispielsweise in der Neuen Zürcher Zeitung, die dies für eine Fehlentscheidung hielten, die dem Nobelpreis schade. Schliesslich sei Gurnah nur Eingeweihten bekannt und habe – in Mitteleuropa! – kaum Leser*innen. Ich unterstelle, dass sie mit einem Afrikaner muslimischen Glaubens, der auf Englisch über Migration schreibt, schlicht nichts anfangen konnten.
Es haben bisher fast nur weisse Männer den Literaturnobelpreis gewonnen. Damit scheint für viele ein Gewohnheitsrecht einherzugehen: Alle anderen bekommen ihn nur aus politischen Gründen, aber bestimmt nicht, weil sie gute Kunst machen würden. Diese mangelnde Offenheit und dieses wahnsinnig eingeschränkte Literaturverständnis finde ich schon ziemlich unerträglich.
Ich habe selbst erst irgendwann gemerkt, dass ich fast nur Literatur aus Europa und Nordamerika lese. Seit ich darauf achte und das ändere, lese ich wesentlich vielfältiger. Aber auch bezüglich Autor*innen aus anderen Kulturkreisen haben wir ein strukturelles Problem. Ihre Bücher werden in Mitteleuropa viel weniger angeboten. Es erfordert einen gewissen Aufwand, anderes zu entdecken.
Wir haben nun viel über Ungerechtigkeiten gesprochen und darüber, warum Frauen es in der Literatur trotz grossem Talent oft weniger weit bringen als Männer. Doch es gibt auch Autorinnen, die extrem erfolgreich sind. Zum Beispiel Judith Schalansky. Ihr Buch «Der Hals der Giraffe» wurde vielfach aufgelegt und übersetzt.
Richtig, es gibt Frauen, auch Juli Zeh beispielsweise, die ein grosses Publikum erreichen und auch von Männern gelesen werden. Als Frage würde ich in den Raum stellen, ob das wohl daran liegt, dass sie sich weniger auf die typisch weiblich konnotierten Themen stürzen. Allerdings wäre das schade, und ich würde so etwas nie als Strategie für junge Autorinnen ausgeben wollen. Denn die Auseinandersetzung mit spezifisch weiblichen Fragen fehlt in unserer Gesellschaft. Ich wünsche mir, dass sich Männer, Frauen und überhaupt alle mehr damit befassen, so wie wir uns schon immer mit spezifisch männlichen Fragen befasst haben, die als allgemein und wichtig angesehen werden.
Das würde natürlich ein gewisses Grundinteresse voraussetzen.
Und das betrifft schon die Schule. Eigentlich müsste Frauengeschichte von Anfang an mitgelehrt werden, – nicht nur im Deutschunterricht, über den wir eingangs gesprochen haben. Denn sie betrifft nun einmal die Hälfte der Bevölkerung, darum sollten sich alle besser damit auskennen.
Vielen Dank für die interessanten, aber auch unbequemen Einblicke in den Literaturbetrieb. Mir gefällt sehr, wie Sie uns die Arbeit von Autorinnen näherbringen, indem Sie über die Qualität ihrer Kunst sprechen. Obwohl Sie eindringlich auf Ungerechtigkeiten hinweisen, hat «Frauen Literatur» am Ende doch auch eine positive Botschaft: Sie erschliessen vor allem eine neue Welt voll grossartiger Bücher. Vielleicht können wir davon für den Architekturdiskurs lernen.
Frauen Literatur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt
Nicole Seifert
224 Pages
ISBN 9783462002362
Kiepenheuer&Witsch
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