Leise und verträumt oder laut und virtuos: Architektur aus der Feder von Theatermachern
Daniela Meyer
30. September 2024
Seit über 700 Jahren prägt die Burg Riom das Erscheinungsbild des gleichnamigen Dorfes. Seit 2016 finden darin Theater- und Tanzaufführungen sowie Konzerte statt. (Foto: Benjamin Hofer)
Eine Burg, ein Stall, ein Turm aus dem 3D-Drucker und zwei Zuckerbäcker-Villen – das Immobilienportfolio der Stiftung Origen ist alles andere als gewöhnlich. Die Bauten dienen als temporäre Bühnen oder Hotels, die mit reich gestalteten Räumen überraschen.
Die mächtige Burg und das gleichnamige kleine Bergdorf Riom liegen an der Westflanke des Val Surses, einem Hochtal nördlich des Julierpasses. Die Burg stammt aus der Mitte des 13. Jahrhunderts und zählte damals zu den grössten Profanbauten Graubündens. Ihre jüngere Geschichte ist eng mit der Nova Fundaziun Origen verknüpft, da es sich bei dem Baudenkmal um die erste Wirkungsstätte der Kulturinstitution handelt. Durch den Einbau einer einfachen Holztribüne und den Anbau einer Stahltreppe – beide Eingriffe sind reversibel – wurde aus der denkmalgeschützten Burg 2006 ein Theater, das Schauspielerinnen und Sängern ein Dach über dem Kopf bietet. Doch in den Wintermonaten wird es kalt zwischen den hohen, beinahe fensterlosen Mauern. Schon bald hielt die Stiftung nach einem zweiten Spielort Ausschau und stiess am Ortsrand auf die Clavadeira. Der inzwischen sanft umgebaute Stall steht an einem lauschigen, gepflasterten Platz und gehört zur Villa Carisch. Das herrschaftliche Wohnhaus wurde im 19. Jahrhundert von einem Auswanderer erbaut, der es in Paris zu wirtschaftlichem Erfolg gebracht hatte.
Die Atmosphäre in der nahezu fensterlosen Burg ist einzigartig, doch vor der Kälte schützen die dicken Mauern im Winter nicht ausreichend. (Foto: Admill Kuyler)
Die Villa Carisch und die Clavadeira, eine ehemalige Scheune, gehörten schon früher zusammen. Heute dienen sie als Gasthaus und Winter-Spielstätte. (Foto: Benjamin Hofer)
Erstes Gästehaus in RiomMit dem Kauf der Villa Carisch erhielt die Institution erstmals die Möglichkeit, Gäste unterzubringen, und renovierte das Haus sanft. Drei getäferte Salons laden Einheimische und Gäste dazu ein, Platz zu nehmen, sich ein Stück Kuchen zu gönnen oder einfach mit einem guten Buch zu verweilen. Im Obergeschoss gibt es fünf Hotelzimmer, die vom Schicksal der Familie Carisch erzählen und alle einen eigenen Charakter innehaben. Bunt gemusterte Tapeten und Vorhänge hüllen zwei davon ein. Sie tragen die Handschrift des Textildesigners Martin Leuthold. Anfänglich in erster Linie für die Kostüme der Tanz- und Theaterproduktionen verantwortlich, tauchen seine bunten und verspielten Kreationen heute auch in den Innenräumen der zahlreichen Bauprojekte auf. Denn so läuft es meistens bei Origen: Aus einem Projekt entsteht das nächste, und wer im einen Moment Theater macht, steht vielleicht schon bald auf der Baustelle eines in die Jahre gekommenen Wohnhauses oder Hotels.
Die schlichten Zimmer in der Villa Carisch wurden vom Textildesigner Martin Leuthold mitgestaltet. (Foto: Benjamin Hofer)
Je länger der Streifzug durch Riom dauert, desto deutlicher wird, wie die verschiedenen Tätigkeitsfelder der Stiftung ineinander verwoben sind. Fast ist es, als gäbe es an jeder Ecke ein Rätsel zu lösen. Am zentralen Dorfplatz sticht eine pinke Hausfront ins Auge, die mit floralen Sujets bemalt ist. Dahinter verbirgt sich das atelier pôss, die textilen Werkstätten, wo drei Mitarbeitende die Kostüme für die zahlreichen Aufführungen sowie Kissen oder Duvets fertigen.
Ein weiteres Rätsel geben acht verwitterte Säulen auf, die auf der Terrasse der Villa Carisch versammelt sind. Sie scheinen darauf zu warten, etwas in die Höhe zu stemmen. Ihre Farbe erinnert an Beton, ihre verschlungenen Formen wirken weich. Beim Näherkommen sind die dünnen Schichten erkennbar, aus denen sie aufgebaut sind. Doch nicht hier in Riom soll weiter gebaut werden; bei den Fragmenten handelt es sich um Prototypen für ein Bauwerk, das derzeit ein paar Kilometer weiter südlich errichtet wird.
Wofür wohl die acht Säulen auf der Terrasse bestimmt sind? Die Antwort findet sich weiter südlich im Tal. (Foto: Benjamin Hofer)
Schillerndes Gesamtkunstwerk in MulegnsDort säumt die winzige Ortschaft Mulegns zwei enge Kurven der Julierpassstrasse. Aus dem Tal kommend, fällt der Blick zuerst auf ein verhülltes Haus, das noch auf den Abschluss der Sanierungsarbeiten wartet. Dabei handelt es sich um die Weisse Villa, die vor vier Jahren aufgrund einer Strassenverbreiterung verschoben wurde. Mit dieser spektakulären Aktion konnte Origen das Überleben des Wohnsitzes eines früheren Zuckerbäckers sichern.
Keine Theaterkulisse, sondern ein Blick in das Zimmer «London» im neu eröffneten Post Hotel Löwe (Foto: Benjamin Hofer)
Mindestens so prunkvoll wie die Schlafräume sind auch die Badezimmer im Post Hotel Löwe gestaltet: Die U-Bahn-Station gehört zum Zimmer «Moskau». (Foto: Benjamin Hofer)
Bewegt ist auch die Geschichte des Nachbargebäudes. Seit wenigen Monaten erstrahlt das Post Hotel Löwe in neuem Glanz. Kronprinzessinnen, Zarenwitwen, Nobelpreisträger und sogar ein amerikanischer Präsident haben darin einst übernachtet. Von den namhaften Gästen und ihren Herkunftsorten oder von der letzten Hoteldirektorin, die das Haus führte, bis es kurz vor dem Zerfall stand, erzählen die opulent gestalteten Räume des neu eröffneten Hotels. Hinter jeder Zimmertür verbirgt sich eine eigene kleine Welt und entführt die heutigen Gäste nach London, Sankt Petersburg, Helsinki oder Turin. An den Zimmerwänden der Petersburger Suite funkeln Malachite und Bernstein, während London eine einzigartige Lichtstimmung vortäuscht, die selbst der Dunkelheit standhält. Bisweilen wirken die Interieurs wie Bühnenbilder – ein Verweis auf das Planungsteam, zu dem neben Martin Leuthold die Architektin Anja Diener und der Theaterintendant Giovanni Netzer zählten. Die reiche Geschichte des Hauses hat das kreative Trio bei der Gestaltung der Zimmer, Gaststuben und Salons sowie deren Ausstattung inspiriert.
Zurzeit entsteht in der winzigen Ortschaft Mulegns der Weisse Turm, der begehbare Installation, intimer Konzertraum und Ort der kulturellen Vermittlung sein wird. Das Leuchtturmprojekt wird von 32 Säulen getragen, die einem 3D-Drucker entstammen. (Foto: Benjamin Hofer)
Auf den roten folgt ein weisser TurmDoch statt von den unzähligen Referenzen, die sich im Post Hotel Löwen finden, zu erzählen, soll an dieser Stelle noch das bereits erwähnte Rätsel gelöst werden. Dieses führt nur wenige Schritte weiter, zur ehemaligen Fuhrhalterei des Hotels. Über dem eingeschossigen Häuschen, das als Sockel dient, entsteht gerade ein Bauwerk, das die rund zwei Dutzend Häuser des Ortes bei weitem überragen wird. Ein dreissig Meter hoher Turm, geformt aus 32 weissen Säulen, die einem 3D-Drucker entstammen. Im Gegensatz zu den Prototypen in Riom werden sie drei Obergeschosse und eine Kuppel tragen. Für das weltweit höchste Gebäude, das mittels 3D-Druck gefertigt wird, ist Origen eine Kooperation mit der ETH Zürich und verschiedenen Partnern aus der Bauindustrie eingegangen. Wer nicht bereits von der Bündner Kulturstiftung gehört hat, als diese 2017 einen roten Theaterturm auf dem Julierpass errichtet hatte, dürfte spätestens in wenigen Monaten, wenn der Tor Alva eingeweiht wird, auf Origen aufmerksam werden.