Freiräume

Susanna Koeberle
2. September 2020
Blick auf die städtische Kunstkammer Strauhof, 1975. (Foto: Daniel Vittet)

Vielleicht liegt es ja an mir: Aber jedes Mal, wenn ich von Reisen nach Zürich – die ich eigentlich als meine Heimatstadt bezeichnen müsste, immerhin bin ich Zürcher Stadtbürgerin – zurückkehre, möchte ich der Stadt eine kollektive Therapie verschreiben. Sofort alle ab auf die Couch! Warum eigentlich? Zum Beispiel gibt es hier wenig Leute, die lächeln. Oder: Wer im Tram mit sich selber spricht oder gar mit Fremden (!), gilt als verdächtig. Und so weiter und so fort. Möglicherweise ist das so, weil Zürich eine Stadt ist, die alles hat: Es herrscht Saturiertheit im Quadrat. Aber vielleicht ist Zürich doch nicht so arg. Dieser Gedanke jedenfalls geht mir beim Blättern der Publikation zur Ausstellung «Ausbruch & Rausch» durch den Kopf, die derzeit im Strauhof zu sehen ist. Mitten in Corona-Zeiten war auch die Eröffnung der Schau ein durchaus munteres «Züri-Get-Together». Es spielt dann auch keine so grosse Rolle mehr, dass ein Event, der das Vergangene feiert, halb so wild ist, wie die nun museal zur Schau gestellten Dokumente suggerieren. Die Zeiten ändern sich, das ist der Lauf der Dinge. 

Vieles bleibt notabene auch gleich. Es ist sogar erstaunlich, wie stabil die Wetterlage im beschaulichen «Züri» ist. Zum Glück gibt es in regelmässigen Abständen auch «Störungen». Und als solche dürften auch die jetzt aufbereiteten Kunst-Ereignisse gelten. Der Akt des Zurückschauens allerdings birgt immer die Gefahr der Romantisierung. In diese Nostalgie-Falle sind sowohl das Kuratorenduo Bice Curiger (damals eine der Protagonistinnen der Szene) und Stefan Zweifel (ein eloquenter Beobachter post factum) wie auch die Grafikerin und Buchgestalterin Marie Lusa nicht getappt. Vielmehr schaffen sie es, dem Publikum in der Retrospektive und mit der Publikation ein Zeitdokument zu präsentieren, das nicht nur wehmütig in die Vergangenheit blickt, sondern auch als Reverenz an das Ewig-Wilde in uns zu lesen ist. 

Silvia Zanotta, Mothers Ruin, Monsterkonzert 1980 (Foto: Koni Nordmann)

Die beiden Schauen «Frauen sehen Frauen» (1975) und «Saus und Braus. Stadtkunst» (1980) markierten damals einen Bruch mit einem biederen und konservativen Zürich. Dieser Aufbruch wurde vornehmlich von Frauen getragen und zwar ohne dogmatischen Überbau. Man spürt dieses lustvolle Aufbegehren, den ungestümen und zugleich spielerischen Wunsch, zu experimentieren und sich nicht an Regeln halten zu müssen – auch an kulturelle Codes –, auch im Buch sehr schön. Wir tauchen ab in die Wildnis der Bilder und werden mit den Buchstaben wieder in die Reflexionsebene geholt. Diese anregende Form der Lektüre gelingt dank einer sorgfältigen Dramaturgie. Historisches Bildmaterial – Ausstellungsansichten und andere Fotografien – wechseln sich ab mit kurzen Statements und Essays. Die furchtlose Durchmischung – etwa die zentrale Rolle von Happenings und Musik für die Kunstszene – ist charakteristisch für diese Phase des Zürcher Kulturlebens und prägt sinnigerweise auch den Look und die Erzählform des Buches. 

Beim Lesen und Schauen reist man als Leser*in in die Vergangenheit und kann zugleich Brücken in die Gegenwart schlagen. Ich frage mich etwa, wie Junge die heutige Welt, das heutige Leben in der Limmatstadt erleben. Gibt es genügend Freiräume? Räume zum Experimentieren? Welche Rolle kommt heute der «Kultur» zu? Ist sie nur noch fades Establishment? Wo findet «Subkultur» statt? Was hat die Digitalisierung verändert? Müssen Junge heute gegen anderes rebellieren? Was ist der Punk von heute? Fest steht: Freiheiten müssen stets neu erkämpft werden. Auch daran erinnert uns «Ausbruch & Rausch». 

Peter Fischli und David Weiss, «Modeschau» (Foto © Peter Fischli und David Weiss)
Ausbruch & Rausch. Frauen Kunst Punk 1975–1980

Ausbruch & Rausch. Frauen Kunst Punk 1975–1980
Bice Curiger, Stefan Zweifel
Design: Studio Marie Lusa

21 x 29.7 cm
500 Pages
160 Illustrations
Hardcover
ISBN 9783907360
Edition Patrick Frey
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