Die Grenze als Raum denken und zeigen

Susanna Koeberle
11. April 2022
Die Präsentation des Projekts «oræ – Experiences on the Border» in den grosszügigen Räumen des ZAZ hat gegenüber jener in Venedig an Relevanz und Klarheit gewonnen. (Foto © Nakarin-Fotografie)

 

Stellt man sich die Frage nach der Definition und Bedeutung des Wortes Grenze, scheint zunächst alles klar. Je genauer man hinschaut, desto verschwommener und komplexer wird die Sache mit der Grenze allerdings. Die Grenze scheint sich dabei zu vervielfältigen, auszuweiten: Die Linie wird gleichsam zum Raum. Das beginnt schon bei der Etymologie des Wortes. Das mittelhochdeutsche «greniz» beziehungsweise «grenize» stammt nämlich ursprünglich aus dem Slawischen. Wenn also ein Begriff, der gemeinhin eine Landesgrenze bezeichnet, selbst eine Grenze überschreitet, dann wird es kompliziert. Oder spannend. Die Grenze ist in der Tat ein vielschichtiges Phänomen. Sie besteht physisch – entweder als natürliche oder als politische Grenze –, sie ist aber zugleich auch ideeller Art und deckt sich gerade diesbezüglich meist nicht mit der physischen Grenze. Dieses Konzept genauer zu analysieren und in seiner Komplexität zu vermitteln, war die Absicht von Vanessa Lacaille und Mounir Ayoub. Die beiden Genfer Architekturschaffenden konnten ihr ambitioniertes Projekt «oræ – Experiences on the Border» letztes Jahr zusammen mit dem Filmemacher Fabrice Aragno sowie dem Bildhauer Pierre Szczepski im Schweizer Pavillon an der Architekturbiennale von Venedig zeigen. Hinter der Präsentation steckt eine langjährige Recherche, die sich aufgrund der Pandemie sogar noch extra in die Länge zog, allerdings im positiven Sinne. Denn es zeigte sich, dass die Projektinitiant*innen zur Erfassung dieses Phänomens auf die Zusammenarbeit mit anderen Menschen, nämlich den Bewohner*innen des Grenzraums, angewiesen waren; dass man erst verstehen, wenn man diesen Raum im Austausch mit Betroffenen auch physisch erfahren kann. 

 

Das Projektteam (von links nach rechts): Pierre Szczepski, Mounir Ayoub, Vanessa Lacaille und Fabrice Aragno (Foto: KEYSTONE / Gaëtan Bally)

Die vier Kurator*innen entschieden, sich auf eine Reise entlang der Schweizer Grenze zu begeben. Ein Lastwagen mit einem mobilen Atelier diente dabei als Forum für verschiedene Workshops. Die Gespräche und Geschichten wurden minutiös protokolliert. Sie dienten Pierre Szczepski als Basis zur Erstellung von Modellen. Denn es ging ja auch darum, diesen Prozess einem Publikum zu vermitteln. Im Schweizer Pavillon setzten die Kurator*innen in Zusammenarbeit mit Pro Helvetia auf eine multimediale und immersive Installation. Der abgedunkelte Raum mit den auf Metallgestellen platzierten Modellen hatte eher etwas von einer Kunstinstallation. Eine Landkarte sowie einzelne Plakate mit Zitaten aus den Workshops im Hof des Baus verorteten und vervollständigten die Präsentation. 

Das Thema ist unterdessen so facettenreich und schwer fassbar, dass es in Venedig bei einer oberflächlichen Berührung blieb. Der Salon Suisse, der letztes Jahr von Evelyn Steiner kuratiert wurde, bot Gelegenheit zur Vertiefung. Steiner, die auch Kuratorin des Zentrums Architektur Zürich (ZAZ Bellerive) ist, erkannte die Relevanz und die Aktualität des Themas und schlug eine Übernahme und Adaption der Ausstellung für die Räume in der Limmatstadt vor. Das erweist sich nun in mehrfacher Hinsicht als Glücksfall. Denn eine solch zeit- und ressourcenintensive Recherche einfach sang- und klanglos nach Ende der Biennale in der Versenkung verschwinden zu lassen, wäre schade und ausserdem nicht besonders nachhaltig gewesen.

 

Die Präsentation im ZAZ ist unprätentiös und zugänglich. (Foto © Nakarin-Fotografie)

Das Thema passe gut in die Ausrichtung des ZAZ, das Architektur mit gesellschaftlichen Fragen verknüpfen möchte, sagt Steiner beim Rundgang durch die hellen Räumlichkeiten des historischen Hauses. Baukultur umfasst mehr als nur das Präsentieren von toller Architektur, es geht vielmehr um eine breite Vermittlung, die auch Laien ansprechen soll. «oræ – Experiences on the Border: The Process» legt nun den Fokus auf die Dokumentation des Prozesses sowie auf eine Aktivierung durch begleitende Veranstaltungen wie Führungen, Vorträge, Exkursionen oder Spaziergänge. Die Eingangshalle mit den beiden grossen Landkarten schafft eine geografische Orientierung. Bei der Karte mit den Stationen der Reise wird deutlich, dass sich die räumliche Darstellung der Grenze nicht in der kartografischen Wiedergabe erschöpft. Lacaille und Ayoub stellten in diesem Kontext die These der «Thickness» der Grenze auf. Eine weitere Erkenntnis dieser Recherche ist, dass die Grenze im Vergleich zu ihrer Relevanz ein vernachlässigter Raum ist. Die Mehrstimmigkeit dieser Materie in einer Ausstellung zum Klingen zu bringen, ist eine grosse Herausforderung. Überhaupt seien Architekturausstellungen kuratorisch komplex, da ja das «Original» jeweils abwesend sei, stellt auch Steiner fest. Dass eine solche Ausstellung dennoch durchaus lebensnah sein kann, zeigen die kleinen Anekdoten aus dem Alltag der Grenzbewohner*innen, die sich zwischen kurios und tragisch bewegen. 

 

Die Karte zeigt die Stationen der Reise und verdeutlicht die These der Kurator*innen. (Foto © Nakarin-Fotografie)

Die Ausstellung bietet die Möglichkeit, diese Recherche auf unterschiedlichen Ebenen kennenzulernen. Die Szenografie der Modelle, die auf jenen Holzkisten präsentiert werden, in denen sie auch verstaut waren, ist erfrischend unprätentiös und erlaubt zudem ein ungehindertes Studieren der Exponate. Dazu können Interessierte Geschichten in einem Flyer nachlesen oder an den Wänden die Protokolle und Skizzen begutachten, die anlässlich der Begegnungen vor Ort entstanden sind. Alles kann man kaum verdauen und vertiefen, aber das punktuelle Herauspicken von Geschichten kann einem ganz persönlichen Bezug zu den Grenzorten entspringen oder auch dem Zufall überlassen werden. Gerade in der kleinen Schweiz ist die Grenze immer nah. Jeder und jede kennt hier Menschen, die sich regelmässig im Grenzraum bewegen. Dieses Osmotische zeigt die positiven Aspekte der Grenze als Begegnungsort, aber auch die Kehrseite der Medaille. Die Richtung und der Grund der Bewegung sind dabei entscheidend. Gerade die Pandemie hat ja auch absurde Situationen hervorgebracht, die uns unter anderem vorführen, wie abhängig wir von Grenzgänger*innen als Arbeitskräfte sind. Und was eine Grenze für Menschen auf der Flucht heissen kann, sehen (oder hören) wir aktuell durch den Krieg in der Ukraine. Die Eskalation dieses lange währenden Konflikts zeigt auch, dass die Identitätsbildung einer Nation ein Prozess ist, der eben auch durch Grenzen geschehen kann. Grenzen sind Verheissung und Unheil zugleich. Ein Grund mehr darüber nachzudenken. Dass das mobile Atelier im Garten des ZAZ aufgestellt wurde und auch genutzt werden soll, schafft eine zusätzliche Brücke zu den Besucher*innen. Wie schon das ursprüngliche Projekt soll auch die Ausstellung im ZAZ partizipativ sein. Die physischen Exponate sind ein Vorwand, den Austausch zu fördern. 

 

Mobiles Forum in Pratteln, 2021 (Foto © Team Schweizer Pavillon Architekturbiennale Venedig)
Die Ausstellung im ZAZ Bellerive (Höschgasse 3, 8008 Zürich) dauert noch bis zum 22. Mai 2022.
 
Alle Begleitveranstaltungen finden Sie auf der Website des ZAZ.

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