Von der Werkbank zum Innovationsmotor
Elias Baumgarten
14. Januar 2020
Foto: Elias Baumgarten
China ist auf der Überholspur. Weltweit nimmt das Land strategische Investitionen vor und treibt Grossprojekte voran. Und wichtiger noch: Die hochnäsige Idee vom «China-Schrott», die sich im Westen noch immer hartnäckig hält, stimmt längst nicht mehr. Im Reich der Mitte ist man drauf und dran, uns technologisch abzuhängen. Der renommierte Journalist Frank Sieren, der seit 1994 in Peking lebt und für das Handelsblatt schreibt, hat ein Buch über die Entwicklung des Landes verfasst, es heisst «Zukunft? China!». Obschon Sieren auffällig China-freundlich eingestellt ist, empfehlen wir seinen Streifzug durch Politik und Wirtschaft zur Lektüre. Denn er hilft, geo- und industriepolitische Manöver besser zu verstehen, die, wenig diskutiert, viele politische Debatten massgeblich beeinflussen.
Wer wird künftig unser härtester Wettbewerber? «Ich sage nur China, China, China», warnte Kurt Georg Kiesinger (1966 bis 1969 deutscher Bundeskanzler) einst während einer Wahlkampfrede in Dortmund; das war 1969. Doch weiter beachtet wurden seine Worte nicht. Noch heute spielt China eine vergleichsweise kleine Rolle, wenn wir die Zeitung aufschlagen oder die Nachrichten sehen. Zwar erfahren wir von der Belt-and-Road-Initiative («Neue Seidenstrasse») oder den Übernahmen westlicher Traditionsunternehmen wie dem schwedischen Autobauer Volvo, doch sind vertiefte Beiträge zu Chinas Industrie- und Geopolitik dünn gesät. Lieber und weit öfter wird China dargestellt als Land, das mit billigen Plagiaten heimischen Onlinehändlern ernste Probleme bereitet und (westliche) Kundschaft mit «China-Schrott» abzieht. Dabei beeinflussen die Chines*innen längst unser Leben, unsere Zukunftsperspektiven und auch die Politik in Europa wesentlich. China ist die grösste Volkswirtschaft der Welt und der grösste Gläubiger der Vereinigten Staaten. Planmässig treibt das Land weltweit Grossprojekte voran und sichert sich die Kontrolle über Schlüsselressourcen – Kobalt und Lithium für Batterien zum Beispiel. Und: China ist längst nicht mehr Synonym für billige Plagiate. Vielmehr hat das Land technologisch zum Westen aufgeschlossen und ihn teils schon überholt. Peking ist es gelungen, die Kreativität und den Erfindergeist gerade der jungen Menschen zu entfesseln. Als Sierens Buch erschien, gehörte zum Beispiel das teuerste «Einhorn» der Welt – so nennt man Start-ups, die mehr als eine Milliarde US-Dollar wert sind – einem Chinesen. Die Firma beschäftigt sich mit der Gesichtserkennung, einem Bereich, in dem China weltweit führend ist. Aktuell rangieren chinesische Firmen auf den Rängen zwei und drei.
Doch wie wirkt sich Chinas Aufstieg auf Alltag, Politik und Leben in Europa aus? Darüber hat der deutsche Journalist Frank Sieren, der seit Mitte der 1990er-Jahre in China lebt und aktuell für das Handelsblatt von dort berichtet, mit «Zukunft? China!» (2018) ein lesenswertes Buch geschrieben. Er zeichnet die Entwicklung des Landes umfassend nach und belegt seine Aussagen mit vielen Zahlen. Dabei ist die Publikation leicht verständlich und präzise formuliert. Zu Wort kommen viele Persönlichkeiten aus Politik, Forschung, Industrie und Wirtschaft, so zum Beispiel Michael Clauß, der von 2013 bis 2018 deutscher Botschafter in China war, oder Christian Bauckhage, Professor für Informatik an der Universität Bonn und Lead Scientist für maschinelles Lernen am Fraunhofer-Institut.
«Die Länder, die in der KI führend sind, haben den strategischen Vorteil, die Spielregeln der nächsten Weltordnung zu schreiben.»Innovation im Eilzugtempo
Ausführlich widmet Sieren sich dem technologischen Fortschritt in China. So lernt man bei der Lektüre zum Beispiel, dass die E-Busflotte des Landes mittlerweile über 380'000 Fahrzeuge umfasst; 16'300 sind es allein in Shenzhen. Sie reduzieren die CO2-Emissionen der Millionenmetropole um 1,35 Millionen Tonnen jährlich. Die Regierung treibe den Umweltschutz (im eigenen Land) resolut voran, lobt Sieren. Dabei lässt er allerdings unter den Tisch fallen, dass weiterhin grosse Teile des chinesischen Stroms aus fossilen Energieträgern gewonnen werden und die Herstellung von Batterien (anderenorts) Probleme verursacht. Die ersten Fahrzeuge wurden 2011 in Dienst gestellt. Hingegen präsentierte Daimler, in Deutschland in diesem Bereich führend, erst 2018 den E-Citaro. Seit vorigem Jahr läuft die Erprobung. Weil die deutsche Industrie kaum Lösungen parat hat, werden zum Beispiel in Berlin Busse des polnischen Herstellers Solaris eingesetzt. Auch das lief zunächst holprig – die Ausfallquote der Fahrzeuge lag anfangs bei 25 Prozent. Für Sieren ist das symptomatisch. In Sachen Elektromobilität sei die europäische Automobilindustrie abgehängt, meint er. Selbiges gelte auch beim autonomen Fahren. Was das für die Branche bedeutet, scheint sich bereits abzuzeichnen: Obschon die Premiumhersteller in China noch gut verkaufen, schrumpfen oder stagnieren andere Firmen auf dem für sie weitaus wichtigsten Markt. Und dass ihre chinesischen Konkurrenten auf den europäischen drängen werden, scheint nur eine Frage der Zeit.
Noch weiter voraus ist China Europa bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz (KI). Das ist kein Zufall: Während hier über Risiken, Ethik sowie den Datenschutz diskutiert wird und vergleichsweise wenig Geld in die Forschung fliesst, pumpt man in China Unsummen in die Entwicklung. Auch in Auffindung und Anwerbung ausländischer Talente wird massiv investiert, während andere Länder, die Vereinigten Staaten etwa, sich mehr und mehr abschotten. Dauervisa für ganze Familien sind kein Problem mehr. Und noch einen wesentlichen Vorteil haben Chinas KI-Entwickler*innen: Nirgends sonst werden so viele Daten gesammelt wie im Reich der Mitte. Im Gegensatz zu anderen China-Expert*innen kritisiert Sieren dies übrigens kaum. Lieber lobt er die Technologiebegeisterung der Chines*innen. 2017 kamen die meisten wissenschaftlichen Veröffentlichungen aus China. Und schon 2016 warnte ein US-Regierungsbericht, chinesische Expert*innen würden mehr über das Deep Learning publizieren als amerikanische. Sieren schreibt, was aus westlicher Perspektive schwer vorstellbar sei, sei Chinas autoritärer Führung gelungen – die Kreativität der jungen Chines*innen zu entfesseln und zu befeuern. Was bedeutet das? Sieren zitiert Lee Kai-Fu, den ehemaligen CEO von Google-China, der auch schon für Apple und Microsoft gearbeitet hat: «Die Länder, die in der KI führend sind, haben den strategischen Vorteil, die Spielregeln der nächsten Weltordnung zu schreiben.»
China investiert in grosse Infrastrukturprojekte. (Foto: Elias Baumgarten)
Chinesische Geopolitik spaltet die EUChinas geopolitische Aktivitäten schlagen sich indes auch in Europa nieder und setzen die Europäische Union (EU) unter Druck. Dass China im Zuge der Belt-and-Road-Initiative beispielsweise in Griechenland und Serbien massiv investiert, ist hinlänglich bekannt. So steckt die Firma COSCO schon seit 2009 viel Geld in den Hafen von Piräus; bis 2026 sollen es 350 Millionen Euro sein. Hierunter leidet zum Beispiel Hamburg. Seit 2017 stagniert der Containerumschlag dort, während Piräus der am schnellsten wachsende Hafen überhaupt ist.
Sieren beschreibt Chinas Investitionen in Süd- und Osteuropa detailliert. Er zeigt dabei auf, welche Auswirkungen sie auf die Politik und Abstimmung innerhalb der EU haben, die gerne übersehen werden. So torpedierten Griechenland und Ungarn im Sommer 2016 eine Resolution der EU, mit der Chinas Machtpolitik im Südchinesischen Meer getadelt werden sollte. China spielt die uneinigen und in der Tagespolitik verlorenen Staaten der EU gegeneinander aus. Ungarns umstrittener Ministerpräsident Viktor Orbán zum Beispiel schiesst demnach oft vor allem auch im Interesse seiner chinesischen Partner quer. Ferner legt Sieren dar, wie die Sanktions- und Sicherheitspolitik der EU und der Vereinigten Staaten den Ausgleich zwischen Russland und China beschleunigen. Dies schmälert Europas Machtposition noch weiter.
Frank Sieren bewundert China. Er ist bei weitem nicht so kritisch wie zum Beispiel Kai Strittmatter, der in seinem Buch «Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert» ein düsteres Bild des Landes zeichnet. Sierens Schlussfolgerungen etwa zur Behäbigkeit der westlichen Demokratien sind schwierig. Selbiges gilt für seine implizite Hoffnung, China werde eine gerechtere Weltordnung herbeiführen. Dennoch zeigt er auch die Schattenseiten von Chinas Entwicklung ausführlich: Noch immer sei das Rechtssystem im Land undurchsichtig und bisweilen willkürlich, schreibt er, die Bevölkerung werde drangsaliert, es herrsche strenge Zensur und die Korruption sei weiter ein Problem. Auch mangle es an Land sowie sauberem Wasser und die Unterschiede zwischen Arm und Reich seien weiter gross – auch wenn die Armutsbekämpfung sehr gute Resultat gebracht habe. Doch geben wir nicht acht, so kann man aus «Zukunft? China!» folgern, droht uns jenes Schicksal, das die Chines*innen im 18. Jahrhundert ereilte: Überheblich hatte Kaiser Qianlong 1793 ein Handelsabkommen mit England brüsk abgelehnt; es gäbe nichts, was China nicht schon besässe, meinte er. 1839 kehrten die Briten als Kolonialherren zurück und begannen das Land auszubeuten.
Zukunft? China!
Frank Sieren
368 Seiten
Hardcover
ISBN 9783328600329
Penguin
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