Verklärter Rückblick

Ulf Meyer
5. Mai 2020
Foto: Pixabay via Pexels

Die Zukunft des Wohnens war schon vor der Corona-Krise ein «heisses» Thema – politisch, technisch und sozial. Die Anzahl kleiner und dennoch teurer Grossstadtwohnungen nimmt zu, «Self-Storage» ist in, Baugruppen sind ein neuer Typus Bauherr und die Politik liebäugelt mancherorts mit einem Mietendeckel. Auch technisch gibt es einige Neuerungen, die das Wohnen verändern: Breitband-Internet-Zugang in jeder Behausung führt dazu, dass das Streaming am Laptop das Fernsehen im Wohnzimmer ersetzt. Der Einsatz von Bewegungsmeldern, «Alexa» und Saugrobotern revolutioniert die Haustechnik, während soziokulturelle Phänomene wie die Auflösung der Kernfamilie, die Landflucht und Plattformen wie Airbnb den Immobilienmarkt bewegen. Diese Veränderungen widerspiegeln sich im privaten Interieur. Durch die Corona-Krise, die derzeit Millionen Menschen ins Home-Office zwingt, verwischt die Grenze zwischen Arbeits- und Privatleben zusätzlich. 

Der deutsche Architekturjournalist Klaus Englert diskutiert in seinem neuen Buch «Wie wir wohnen werden» die Zukunft des Wohnens. Das Timing der Veröffentlichung ist perfekt, die Alliteration im Titel herrlich. Allerdings wird das Versprechen nur teilweise eingelöst: Tatsächlich interessiert sich der Autor mehr für die aufkommende Moderne vor hundert Jahren und die Wohnungsbau-Architektur. Das Wohnen selbst streift er nur. Englert hat sein Buch in drei Teile gegliedert: Eine kurze Geschichte der aufkommenden Moderne, zwölf recht disparate Ansätze im zeitgenössischen Wohnungsbau, gefolgt von Interviews mit drei Architekten: Winy Maas, Werner Sobek und Tobias Walliser.

Der erste Teil des Buchs ist am besten gelungen: Klug und kenntnisreich führt Englert durch die Entwicklung des modernen Wohnens Ende des 19. Jahrhunderts anhand der Geistes- und Literaturgeschichte. Seine beiden Protagonisten Walter Benjamin und Sigfried Giedion sind wohlbekannt und die baukulturellen Debatten, die sie einst ausgefochten haben, lange geschlagen: Das «Höhlenwohnen» der Gründerzeit wird dem reduzierten «Nestwohnen» der Moderne gegenübergestellt wie Gut und Böse: Hier der grossbürgerliche Spiess und Nippes, dort die lichte Moderne, die leicht und reduziert, ohne Ballast daherkommt. Irritierend ist, dass der Autor die Positionen der Moderne in keiner Weise hinterfragt. Vielmehr macht sich Englert zu deren Anwalt. Seine Protagonisten sind Heroen, jedwede Kritik an der Moderne ist unzulässig oder unnötig. 

In den kurzen Passagen über die heutige Wohnsituation in deutschen Grossstädten nimmt Englert das vom Büro ASTOC aus Köln entworfenes Neubauviertel Derendorf im Norden von Düsseldorf zum Beispiel, das er aus der eigenen täglichen Anschauung kennt. Die «Misere des Wohnungsmarktes», die sich für ihn in dem Viertel ökonomisch und ästhetisch offenbart, führt er zugleich auf den «Neoliberalismus», einen beliebten Prügelknaben, und den Ausverkauf des sozialen Wohnungsbaus durch die Sozialdemokratie zurück. Derartige Widersprüche werden leider nicht näher ausgeführt. Amerikanische Fonds als Bauherren sind ihm ebenso suspekt wie Chinesen als Käufer oder Osteuropäer als Handwerker. Englert ist ein Experte für Architektur in seiner Heimatstadt Düsseldorf, aber auch für die Niederlande, Spanien, Frankreich und andere Teile der romanischen Welt. Dass er den Traum der leeren, «mobilen» Wohnung für Nicht-Sesshafte noch einmal träumt, Wohnwagen und Raumkapsel als Vorbilder noch einmal aus der Mottenkiste der Moderne holt, die «Tyrannei der Transparenz» nicht weiter thematisiert, den «nötigen moralischen Exhibitionismus» der modernen, «befreiten» Wohnung nicht hinterfragt, all das überrascht. «Kollektiv», «weiß», und «links» sind «gut», «privat», «dunkel» und «rechts» böse, daran hat sich seit Giedion scheinbar nichts mehr geändert. Bürgerliche Wohnkultur ist allein ein bourgeoises Korsett. Der «heroische», aber auch übergriffige Gestalter verteilt Rezepte für ein «besseres Wohnen». Unter Millennials herrscht Unlust, aus dem eigenen Heim ein Lebensprojekt zu machen. Der Homo movens bevorzugt den Dauer-Tourismus und braucht kein «Zuhause als Selbstdarstellung». Das Zuhause soll aussehen und funktionieren wie ein Boutique-Hotelzimmer. Dabei entwickelt gerade eine «mobilitätsgetriebene Gesellschaft» Sehnsucht nach Geborgenheit. 

Der Reclam-Verlag aus Stuttgart, traditionell für seine Fibeln mit bildlosen Bleiwüsten bekannt, hat für den zweiten Teil von Englerts Buch Raum ein paar Schwarz-Weiss-Fotos spendiert, die der Autor teils selbst geschossen hat. Grundrisse oder Graphiken sucht man vergeblich. Das ist für ein Lesebuch zum Billigpreis akzeptabel. Schade ist jedoch, dass der Autor bei seinen Fallbeispielen Werke vorstellt, die er offensichtlich selbst nicht kennt: Die ephemeren Leichtkonstruktionen von Sou Fujimoto in Tokio zum Beispiel wie sie anhand des «Wohnhauses N» medial um die ganze Welt gingen, gelten ihm als Beispiel für «Transparenz». Die inszenierten Pressebilder suggerieren das auch kunstvoll. Die Realität ist allerdings das genaue Gegenteil: Bis zur Unkenntlichkeit verrammelt, abgesperrt und schon nach Monaten baufällig rosten diese Ikonen des neuen Wohnens dahin, kurz nachdem der Fotograf sie geschickt mit jungen Frauen in weissen Gewändern und Brise im Haar bevölkert hat. Für den europäischen Leser, der sich für die Zukunft des Wohnens interessiert, nutzt so eine Projektvorstellung wenig. Denn viel prägender für Japan ist die Vorstellung, die Wohnung sei ein Refugium vor der Welt – gerade so, wie es derzeit die Wohnung als Quarantäne-Ort ist.

Wie wir wohnen werden

Wie wir wohnen werden
Klaus Englert

125 x 205 Millimeter
216 Seiten
28 Illustrationen
Klappenbroschur
ISBN 9783150111864
reclam
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