Next Level
Jenny Keller
9. Oktober 2017
Einen «minimalistischen Glassarg» nannte Roman Hollenstein, der heute pensionierte Architekturkritiker der NZZ, das neue Gebäude der Swiss Re am Mythenquai in Zürich. Er hat es offensichtlich nur von aussen gesehen.
Der Bau sei massstabslos und banal, schrieb Roman Hollenstein im Mai dieses Jahres. Doch Hollenstein hat das Gebäude nicht von innen gesehen – und wollte eigentlich gegen die «grassierende Abrisswut» in Zürich anschreiben, wobei ihm das Gebäude «Swiss Re Next» von Diener & Diener auf der anderen Seeseite als die NZZ noch vor Fertigstellung gerade Recht kam. Es ersetzt den «Neubau» im Portfolio der Swiss Re (Werner Stücheli, 1965 bis 1969) der dafür abgerissen wurde. Ausserdem plant der Konzern das «Mythenschloss» mit seiner rekonstruierten Seefassade ebenfalls durch einen Neubau zu ersetzen.
Der Rückversicherungsbranche wehe der Wind zur Zeit stark ins Gesicht, sagte Thomas Wellauer, der Group Chief Operating Officer der Swiss Re anlässlich der Eröffnung von «Swiss Re Next». Mit einem neuen Arbeitsplatzkonzept, man nennt es intern «own the way you work» und versah es mit einer Trademark, will die Firma ihre Positionierung als attraktiven Arbeitgeber, in einem zunehmend härteren Wettbewerb um gute Leute, stärken. Der Arbeitstag kann bei Swiss Re, sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht, individuell und grundsätzlich autonom gestaltet werden. Mit dem «Campus Mythenquai», der in den 2020er-Jahren Realität werden soll, fällt der Standort in Adliswil weg, der einst als Anlage gekauft worden ist, und heute nicht mehr ins Konzept der Swiss Re passt, die moderne Arbeitsplätze an zentraler Lage anbieten will – und muss.
So sehen Büros heute aus: Lounge und Kaffeebar im ersten Obergeschoss. Bild: Swiss-Re
Als Mitte der Nullerjahre eine Erweiterung des Hauptsitzes notwendig war, beschloss die Swiss Re aufgrund einer erheblichen Asnützungsreserve des Grundstücks und strukturellen Mängeln, das Stücheli-Gebäude nach 44 Jahren aufzugeben. Das heutige Gebäude mit etwa doppelt so vielen Arbeitsplätzen nach dem neuen Arbeitsplatzkonzept (es hat Platz für 1100 Mitarbeiter, die sich flexibel auf 800 Arbeitsplätze verteilen) ging aus einem Studienauftrag unter sechs Schweizer und sechs internationalen Büros hervor. Diener & Diener konnten den Wettbewerb für sich entscheiden. Dereinst werden am Mythenquai in sechs miteinander verbundenen Gebäuden (Altbau, «Swiss Re Next», Mythenquai 20 – 28, Escher- und Lavaterhaus, Klubhaus) alle in der Schweiz tätigen Mitarbeiter im Herzen von Zürich arbeiten. Doch man wäre nicht ein international erfolgreiches Business, das mit Zahlen jongliert, würde das neue Arbeitsplatzkonzept nicht auch die Produktivität und Effizienz der Mitarbeiter stärken. Jedes Szenario wurde getestet und in Modellen berechnet.
Im Gebäude «Swiss Re Next» sind die Arbeitsplätze nicht mehr fix zugeteilt und es wird nicht nur am Schreibtisch gearbeitet, sondern auch an der Kaffee-Bar, auf Sofas oder in einem «Think Tank», ein verglaster mit einem Vorhang versehener Raum, der an eine Duschkabine erinnert.
Zurückziehen kann man sich alleine oder zu zweit in die «Think Tanks» mit Vorhängen von Mai-Thu Perret und Marc Camille Chaimowicz. Bild: Swiss-Re
Es gibt auch herkömmliche Arbeitsplätze. Doch diesen sucht sich jeder Mitarbeiter von Tag zu Tag aufs Neue. Bild: Swiss-Re
Roger Diener redet von einer Skulptur, wenn er das Gebäude beschreibt, die in unauflöslichem Austausch mit der Natur und der Umgebung stehe. Zwar mutet die Glas-Transparenz-Metapher etwas verstaubt an (das bemängelte ja auch Herr Hollenstein), doch die gewellte Fassade passt sich tatsächlich den täglichen Begebenheiten an wie der See, der sich je nach Tageszeit und Witterung wandelt. Und die Struktur, ein filigraner Stahlbau mit Spannweiten über 13 Metern führt zu Grosszügigkeit und Durchgängigkeit. Diener & Diener haben den Studienauftrag für sich gewinnen können, weil sie gemäss Swiss Re das flexibelste Konzept eingereicht haben. Dabei sind insbesondere die haustechnischen Anlagen gemeint, die es ohne grosse Mehrkosten (man merkt es, hier wird immer gerechnet) erlauben, im Betrieb mehr Sitzungszimmer oder vielleicht doch wieder Einzelbüros einzubauen.
Die zurückhaltende, hochwertige und ausgewählte Innenarchitektur wurde in Zusammenarbeit mit dem Londoner Büro SevilPeach entwickelt. Details wie die Garderobenschränke oder die Toiletten sprechen für das Interior Design, das nicht dort aufhört, wo man nicht mehr hinschaut. Es wiederspiegelt auch den Sachverstand und die finanziellen Mittel des Auftraggebers. Aber auch das Gebäude, das den Energieverbrauch im Vergleich zum Vorgängerbau um 60 Prozent reduziert, will nicht nur gegen aussen mit seiner Transparenz glänzen, sondern – um bei den Toiletten zu bleiben – nutzt das Seewasser für die Toilettenspülungen, den Gartenunterhalt und die Heizung und Kühlung mittels Wärmepumpe. Es trägt das Label LEED-Platinum und ist Minergie-P-Eco zertifiziert.
Details. Bilder: jk
Architektur und Kunst sind für die Swiss Re integrierter Bestandteil der Unternehmenskultur. Im Gegensatz zu mathematischen Formeln, die das «daily business» bestimmen, schaffen sie Identität und führen zu einem anregenden Arbeitsumfeld, sagt Thomas Wellauer. Mit dem Beginn der Planung von «Swiss- Re Next» gab der Konzern neun ortsspezifische Kunstprojekte in Auftrag. Darunter handgewebte Vorhänge (3'300 Laufmeter Stoff) aus ungefärbter Schafswolle von Willem de Rooij, die einen graduellen Farbverlauf bilden und dem vermeintlichen Glasssarg Wärme vermitteln. Weitere Auftragsarbeiten sind ein Sgrafitto der Künstlerin Kerstin Brätsch im einen Lichthof, das mit ihren Glasfenstern korrespondert, oder Farbwelten von Heimo Zobering im obersten Geschoss. Ergänzt werden diese Arbeiten mit mobilen Kunstwerken aus der beträchtlichen Sammlung des Unternehmens, sodass man sich zuweilen in einem wohl kuratierten Kunstmuseum wähnt.
Kunst am Bau (Steinboden, Skulpturen, Lüftungsgitter, Rezeptionsstresen und Möblierung Wartebereich) von Martin Boyce im Erdgeschoss. Bild: jk
Im Innern will ausserdem eine offene und grosszügige Treppe die Kommunikation fördern, und das Erdgeschoss, das vom Mythenquai erschlossen wird, ist als öffentliche Zone für alle konzipiert. Im Wartebereich fallen statisch unsinnig geformte Stützen aus, die sich als Kunst am Bau entpuppen, die zusammen mit den Bodenplatten, der Möblierung ein Stück übertragene Natur ins Innere bringen. Der Künstler Martin Boyce hat den Steinboden, die Skulpturen, die Lüftungsgitter den Rezeptionstresen und die Möblierung ebenfalls als Auftragsarbeit gestaltet. Die Empfangsräume sind direkt mit dem um zwei Geschosse tiefergelegten Auditorium und zwei mit Glas überdachten Atrien verbunden. Durch diese Lichthöfe sind alle Arbeitsplätze tagesbeleuchtet trotz einer Länge des Gebäudes von 72 Metern und einer Tiefe von 58 Metern. Das Gebäude ist also keineswegs ein kalter Sarg, sein Inneres ist reich an Details, Kunst, Farbe, Tageslicht und Ideen.