Mehr als «nur» Künstlerporträts: Ernst Scheideggers Fotografie

Nadia Bendinelli
12. August 2024
Das Buch «Ernst Scheidegger. Fotograf» ist auf Deutsch, Italienisch und Englisch erhältlich. (Foto: Nadia Bendinelli)

Der Name Scheidegger & Spiess ist ein Begriff, geht es um schöne und gepflegte Bücher über Kunst, Fotografie, Kulturgeschichte, Design und Architektur. Zum 100. Geburtstag des Verlagsgründers Ernst Scheidegger (1923–2016) ist eine Publikation erschienen, die als Katalog zwei Ausstellungen begleitete – im Kunstmuseum Zürich und anschliessend im MASI Lugano. 

Vier Beiträge in «Ernst Scheidegger. Fotograf» unterstreichen, wie vielfältig begabt Scheidegger war: MASI-Direktor Tobia Bezzola, die Fotohistorikerin Alessa Widmer, der Sammlungskonservator Philippe Büttner und Scheideggers Lebenspartnerin Helen Grob skizzieren aus unterschiedlichen Blickwinkeln Werdegang, Interessen und Charakterzüge des Fotografen, der auch Gestalter, Redaktor, Maler, Verleger, Galerist, Filmemacher und Kurator war. 

Doch so interdisziplinär Scheidegger auch arbeitete und so divers seine Interessen waren, das gelungene Buch fokussiert auf sein fotografisches Werk: Drei Kapitel versammeln Bilder aus seinem «Frühwerk», seine «Künstlerporträts» sowie Aufnahmen, die 1955 im indischen Chandigarh entstanden und den Bau der neuen Hauptstadt der Provinzen Punjab und Haryana dokumentieren. Über 180 Abbildungen sind insgesamt zu sehen. Sie spannen den Bogen von bisher selten gezeigten frühen Arbeiten bis hin zu den ikonischen Porträts.

Zu Ernst Scheideggers Frühwerk gehören Reportagen aus verschiedenen Ländern. (Foto: Nadia Bendinelli)
Blick auf den Eingang von «Europa baut», einer von Ernst Scheidegger mitgestalteten Wanderausstellung zum Marshall-Plan, die in den 1950er-Jahren in Paris gezeigt wurde. (Foto: Nadia Bendinelli)
Davor und danach

Mit wenigen Ausnahmen stammen die Reportagefotografien im Kapitel «Frühwerk» aus der Nachkriegszeit. Sie zeigen den Wiederaufbau in der Tschechoslowakei, den neuen Alltag in Mailand oder Paris sowie den Jahrmarkt und den Zirkus Knie in der Schweiz. Dieses Kapitel bildet einer Art davor. Als nämlich Werner Bischof 1954 in Peru und neun Tage später Robert Capa in Vietnam tödlich verunglückten, war Scheidegger wie sie Mitglied der renommierte Agentur Magnum – und die Tragödie erschütterte ihn tief, änderte sogar seinen Karriereweg. Denn eigentlich hätte er damals nach Vietnam fliegen sollen. Doch als Scheidegger für einen Auftrag in Ägypten als einziger rechtzeitig ein Visum bekam, übernahm Capa die Vietnamreise – obwohl er beschlossen hatte, nicht mehr in Kriegsgebieten zu fotografieren. Bei Werner Bischof indes war Scheidegger Assistent gewesen. Beide besuchten Hans Finslers Fotofachklasse an der Kunstgewerbeschule Zürich, beide zogen im Laufe der Zeit die Menschen der Sachfotografie vor. Aus diesen biografischen Gemeinsamkeiten und ihren geteilten Interessen erwuchs eine Freundschaft. Von den beiden Todesfällen aufgewühlt, beendete Scheidegger seine Arbeit für Magnum.

Zu seiner Laufbahn danach gehören die berühmten Künstlerporträts. Im Buch ist eine Auswahl der bedeutendsten dieser Fotografien zu sehen. Sie zeigen Henry van de Velde, Sophie Tauber, Varlin, Joan Miró, Man Ray, Le Corbusier, Warja Honegger Lavater, Alberto Giacometti und viele andere. Solche Porträts entstanden schon früh, parallel zu anderen Aktivitäten; so richtig gefragt waren sie aber erst ab Mitte der 1950er-Jahre. Scheidegger fotografierte seine Sujets oft bei der Arbeit, also in ihrer vertrauten Umgebung. So besitzen diese Bilder meist Reportage-Charakter. Mit einigen Künstlern verband ihn eine engere Freundschaft und er begleitete ihren Werdegang über Jahre; mit anderen war er weniger vertraut. Doch immer spricht aus seinen Bildern ein respektvoller Abstand: Es gibt kein Eindringen, keine gestohlenen Momente, sondern nur das Beobachten eines willkommenen Gastes.

Links: Fritz Glarner, fotografiert von Ernst Scheidegger um 1955. Rechts: Varlin, 1972 (Foto: Nadia Bendinelli)
Marc Chagall, fotografiert von Ernst Scheidegger um 1955 (Foto: Nadia Bendinelli)
Alberto Giacometti, fotografiert von Ernst Scheidegger um 1950 (Foto: N.Bendinelli)

Alberto Giacometti weckte bereits Scheideggers Interesse, da war er noch unbekannt. Mit der Zeit wurde der Fotograf zu einem der guten Freunde des Künstlers. Kennengelernt hatten sich die beiden 1943 während des Aktivdiensts im Engadin. Nach dem Krieg folgten die ersten Besuche Scheideggers in Giacomettis Pariser Atelier. Er hielt dessen Arbeit bis zu seinem Tod im Jahr 1966 mit der Kamera fest. Auch das berühmte Porträt, das einst die 100-Franken-Note zierte, ist Scheideggers Werk. Es überrascht nicht, dass 1962 eine der ersten Veröffentlichungen im Verlag Ernst Scheidegger – der seit 1997 Scheidegger & Spiess heisst – ein Band über den Künstler war.

Doch zurück zum Buch: Beim Blättern schweifen die Gedanken ab. Die oft gelassene Stimmung, die die Atelierfotografien versprühen, suggeriert eine Verbundenheit zwischen Fotograf und Sujet: Wie viele Anekdoten könnte man über diese Begegnungen erfahren, wie viele interessante Gespräche haben da wohl stattgefunden? Vielleicht ist es gerade die Stummheit, die der Fotografie eigen ist, die den richtigen Raum für allerlei (imaginäre) Geschichten lässt; so wie bei Scheideggers frühen Reportagefotos, die auf mehreren Ebenen zu erzählen vermögen. Neben dem Eintauchen in die Bildwelten macht auch die Lektüre der Texte Freude und weckt Neugier, noch mehr über dieses Multitalent zu erfahren. 

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