Fünf wichtige Bücher 2021: Roger Boltshauser zeigt seine Kunst, Lucius Burckhardt wird wiederentdeckt, und Margrit Sprechers Worte sind stärker als Bilder

Elias Baumgarten
22. Dezember 2021
Foto: Elias Baumgarten

Beinahe täglich bekommen wir neue Bücher zugesandt. Sie stapeln sich auf unseren Schreibtischen zu hohen Türmen. Paradiesische Zustände – möchte man meinen. Doch die meisten sind nur Bilderbücher: Schöne Aufnahmen und Pläne wechseln ab mit den gefühlt immer gleichen Beschreibungstexten voll modischer Schlagwörter und Lobhudelei. Tiefgang? Fehlanzeige. Zeitgeist? Wahrscheinlich. Und trotzdem haben wir in diesem Jahr fünf Bücher gelesen und besprochen, die wir Ihnen noch einmal ans Herz legen möchten. Aus ihnen haben wir Neues gelernt, sie haben uns bewegt, fasziniert und intellektuell herausgefordert. 

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Sternstunden des Schweizer Journalismus

Auf Amazon kommt «Irrland» von Margrit Sprecher schlecht weg. «Nach dem Lesen dieses Buches habe ich mich schlecht gefühlt», beklagt sich die Autorin einer 1-Stern-Bewertung. Und weiter: «In meinen Augen alles mehr oder weniger negativ dargestellt.» Gewiss, man könnte dem Leben palästinensischer Zivilisten zwischen Perspektivlosigkeit, Verzweiflung, Armut und den Drangsalierungen israelischer Soldaten und Siedler wirklich etwas Positives abgewinnen; oder der barbarischen Behandlung zum Tode Verurteilter durch die amerikanische Justiz, die mitunter noch nicht einmal wirklich schuldig sind. «Irrland» ist keine leichte Kost. Wer gerne liebliche Unterhaltung mag, ist hier falsch. Das Buch ist unbequem. Margrit Sprechers Reportagen zeichnen bisweilen kein schönes Bild unserer Gesellschaft. Sie machen nicht unbedingt zum Menschenfreund. Das muss man aushalten können. 

Geschrieben sind die Beiträge schlichtweg grossartig. Sie wühlen uns, die wir doch eigentlich von einer Flut an Schreckensfotos und Fernsehreportagen längst abgestumpft sind, auf. Sie lassen nicht los: Obwohl man nach jeder Reportage das Gefühl hat, eine Pause zu brauchen, um das Gelesene zu verarbeiten, kann man «Irralnd» einmal begonnen nicht mehr aus der Hand legen. Das Buch ist eine Herausforderung, und die 20 Texte eröffnen eine neue Perspektive auf die eigenen «Probleme». Sie zeigen, wie gut es der grossen Mehrheit hierzulande trotz allem geht. Margrit Sprechers kunstvoller Umgang mit Sprache, ihre Beobachtungsgabe und ihr wacher Intellekt sind grossartig. «Irrland» sollten Sie sich nicht entgehen lassen. 

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Die Architektur als Medium gesellschaftlicher Verhältnisse

Lucius Burkhardt, ein Nicht-Architekt und Soziologe, war zwar als Lehrer an der ETH Zürich, Chefredaktor der Zeitschrift werk, brillanter Schreiber und intelligenter Theoretiker ein wichtiger Teil der Schweizer Architekturszene, doch zugleich für viele auch eine Provokation. Wirklich akzeptiert wurde er nicht. Philippe Koch, Andreas Jud und dem Team des Instituts Urban Landscape der ZHAW ist es nun gelungen, ihn ins Rampenlicht zu rücken. «Bauen ist Weiterbauen» inspiriert und lädt ein, sich eingehend mit Burckhardt zu befassen. Das ist wichtig, haben sein Denken und Wirken doch gerade jetzt in Zeiten der Klimakrise und angesichts der tiefgreifenden sozialen und kulturellen Veränderungen, die uns etwa durch die Digitalisierung ins Haus stehen, grosse Aktualität. Das Buch hat alles, um dazu beizutragen, Burkhardt seinen angemessenen Platz in der Schweizer Architekturgeschichte doch noch zu sichern.

Auch die Gestaltung des Buches von Büro 146 gefällt: Mit dem Frontdeckel in Hellblau, dem Buchrücken in Gelb, dem Rückdeckel in Orange, bunten Seiten und poppigen Faksimiles von alten Artikeln und Glossen aus dem werk versprüht «Bauen ist Weiterbauen» wunderbare Seventies-Vibes. Doch die kommen leider nicht bei jedem an. Schade, dass als falsch abgelehnt wird, was vom bekannten Muster abweicht. Ein frisches Konzept und viel Farbe in einem Architekturbuch? Geht gar nicht. Genauso wenig wie die QR-Codes, über die die alten werk-Artikel abzurufen sind. Digitale Fussnoten? Das gab es doch früher auch nicht. Eigentlich wäre die Kritik an der unkonventionellen Buchgestaltung nur eine Randnotiz, doch sie ist emblematisch: An der Skepsis gegenüber neuen Ansätzen und Unbekanntem hat sich seit Burkhardts Zeiten wenig geändert.

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Foto: Nadia Bendinelli
Unverstanden, abgelehnt, genial: Louis Soutter

In seinem Roman «Schattentanz» erzählt Lukas Hartmann die bedrückende Lebensgeschichte Louis Soutters (1871–1942). Weil er anders war und sein Lebenswandel seiner Familie missfiel, wurde der Künstler 1923 entmündigt und in ein billiges Seniorenheim abgeschoben. Einzig Le Corbusier, sein Cousin, interessierte sich für Soutter und wusste mit seiner Kunst, die alle anderen ablehnten und die heute zu hohen Preisen gehandelt wird, etwas anzufangen. Doch die beiden zerstritten sich über Le Corbusiers politische Einstellung und seine Bewunderung für Mussolini hoffnungslos. Soutter, der kein Verrückter war und auch nicht weltfremd, sondern gebildet und ein scharfsinniger Denker, warf Le Corbusier aus seinem Zimmer. 

Es schmerzt zu lesen, wie übel Soutter mitgespielt wurde, weil er nicht der Norm entsprach. Beeindruckend ist, wie intensiv Lukas Hartmann Gefühlswelten erlebbar macht – und zwar indem er sich mit dem Schweigen zwischen seinen Figuren beschäftigt, statt lange Dialoge zu entwickeln. Das Buch macht nachdenklich, ja bisweilen traurig, doch ist sehr zu empfehlen. Was bleibt, ist die bange Frage, ob wir toleranter gegenüber Sonderlingen und Dingen geworden sind, die wir nicht kennen oder auf Anhieb verstehen. Die Antwort ist wohl leider ein Nein.

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Was ist das eigentlich, Baukultur?

Ein wichtiges Buch hat der Verein Archijeunes in diesem Jahr herausgegeben. «Elemente einer baukulturellen Allgemeinbildung» ist als Grundlagenwerk gedacht. Die Publikation soll Lehrerinnen und Lehrer der Volksschulen, aber auch der pädagogischen Hochschulen und Kunsthochschulen ins Thema einführen. Profitieren können jedoch auch Bauexperten: Sie erhalten in 16 interessanten Beiträgen Einblicke in andere Disziplinen von der Raumplanung über die Architektur bis hin zur Denkmalpflege. Architekturgeschichte und -theorie werden dabei genauso behandelt wie beispielsweise die Digitalisierung der Bauwirtschaft, der Klimaschutz oder die Projektentwicklung.

Noch steht es um die baukulturelle Bildung hierzulande nicht zum Besten, obschon sich einiges tut. Viele Menschen haben nur eine schwache Vorstellung von dem abstrakten Begriff Baukultur. «Elemente einer baukulturellen Allgemeinbildung» könnte helfen, das künftig zu ändern.

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Monument mit Tiefgang

Monografien zur Arbeit von Architekturschaffenden sind zumeist prächtige, ästhetische und edle Bücher. Doch zu lesen gibt es zumeist wenig. Eine architekturtheoretische beziehungsweise -historische Einordnung der Projekte sucht man – von Ausnahmen abgesehen – genauso vergeblich wie Texte zur Haltung des jeweiligen Gestalters. Das über 500 Seiten starke Buch «Roger Boltshauser» jedoch, das von Martin Tschanz herausgegeben wurde, bietet weit mehr. Es ist Theoriewerk, Einordnung, Diskursöffner, Werkschau, Lehrbuch und Kunstprospekt in einem: Zu Beginn wird das Werk des Architekten und Lehrers besprochen und eingeordnet. Dann werden seine Projekte umfassend und mit hoher Detailschärfe dargestellt. Man erfährt interessante Hintergründe zur Entstehungsgeschichte der Bauten und kann Roger Boltshausers Gestaltungsentscheidungen minutiös nachvollziehen. Den Abschluss bilden die freien künstlerischen Arbeiten des Architekten, der sich lange mit dem Gedanken trug, Künstler zu werden. Die Zeichnungen wurden in der Monografie zum ersten Mal überhaupt publiziert. Es bleibt zu wünschen, dass künftig mehr Bücher wie dieses erscheinen. Der Schweizer Architekturdiskurs würde sehr profitieren.

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