Zeigt her eure Arbeit
Inge Beckel
9. April 2015
Fiat Lingotto, Giacomo Matte-Trucco, Turin, 1913–26. Bild: Archivio e Centro Storico Fiat
An der EPF in Lausanne ist derzeit die Ausstellung Vertical Urban Factory – Fabrikationsbetriebe im urbanen Kontext – zu sehen. Mit der Kuratorin Nina Rappaport sprach Inge Beckel.
Was ist eine vertical urban factory?
Eine so genannte vertical urban factory ist eine mehrgeschossige, vertikal organisierte Fabrik im städtischen Kontext. Es handelt sich um eigentliche Produktionsstätten, wo etwas hergestellt wird. Bezüglich ihrer Struktur und Organisation gibt es zwei Typen: einmal handelt es sich um ein Gebäude, bei dem der Fabrikationsprozess über das ganze Haus läuft und dabei eben vertikal angeordnet ist, entweder von unten nach oben oder umgekehrt. Eine andere Variante ist, dass in einem derartigen mehrstöckigen Gebäude mehrere kleinere Fabriken oder Betriebe untergebracht sind. Dabei ist die Dichte des urbanen Kontexts insofern wichtig für den Herstellungsprozess oder die Herstellungskette, als dass gewisse Teile aus dem nahen Umfeld schnell und unkompliziert eingekauft werden können.
Was unterscheidet sie von Fabriken auf dem Land?
Nun, eine Fabrik in ländlichem Kontext ist in der Regel eingeschossig, also flach organisiert. In diesem Fall kann der Produktionsprozess nicht von der Nähe anderer Fabriken profitieren. Alles muss vor Ort bereitgestellt oder von weit her transportiert werden.
Innerstädtische Fabriken werden erst seit kürzerer Zeit untersucht, betrachtet sowohl aus fabrikationstechnischem als aus architektonisch-städtebaulichem Blick. Ich finde das Thema aber gerade vor dem heutigen globalen Kontext interessant und wichtig, weil zeitgenössische Fabrikationsprozesse oft sehr viel weniger Raum als früher beanspruchen. Denken wir etwa an die Einzelteile in der Telekommunikation. Diese sind äusserst klein und sauber. Sie können problemlos in einem städtischen Kontext hergestellt werden.
Noerd, Freitag-Fabrik in Zürich-Oerlikon, Spillmann Echsle Architekten. Bild © Roger Frei
Wann ist die Fabrik in der Stadt entstanden? Welches waren historisch die massgeblichen begleitenden Umstände?
Das ist ein weites Feld, könnte man sagen, haben doch Fabriken in städtischem Kontext eine lange Geschichte und Tradition. Aber etwas verkürzt gesagt, so gab es inbesondere seit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts Fabriken in den Städten, als sie aus den Produktionsstätten des 18. Jahrhunderts, die in ländlichen Gegenden standen, in städtische Industriekomplexe zogen. Im 20. Jahrhundert haben sie die Städte in grossem Mass erst wieder ab den 1960er-Jahren verlassen, als sie aus den teuren metropolitanen Zentren aufs günstigere Land zogen. Doch schliesslich sind Fabriken stets Teile eines ganzen Wirtschaftszyklus von Produktions-, Handels- und Verkaufsketten.
Die Maxime von «form follows function» trennt die Funktionen. In der Moderne sollte die industrielle Produktion draussen vor der Stadt liegen, um das Wohnen und die Freizeitgebiete nicht zu stören. Hat die Moderne den Typus der Fabrik vernachlässigt?
Ja, in dem Moment, als Industrien in grösseren Massen anfingen, ihr Umfeld zu verschmutzen und stanken, wurden sie aus den Wohngegenden ausgelagert. Es war ja einer der Leitgedanken des Städtebaus der Moderne, die Funktionen örtlich auseinanderzudividieren, also räumlich zu trennen. Aber es ist schon richtig, dem Fabrikbau wurde vergleichsweise nicht dieselbe Aufmerksamkeit gewidmet wie dem Wohnungsbau, als beispielsweise in Stuttgart eine ganze Mustersiedlung modernen Wohnunsgbaus auf dem Weissenhof geplant und realisiert wurde, die wir alle kennen.
Natürlich gab es Architekten, die sich für die Fabrik aus gestalterischer Sicht interessierten. Auch war die Fabrik ein Ort, wo neue Materialien wie Stahl, Glas und Beton in grossem Umfang getestet werden konnten. Es gab durchaus innovative Fabrikbauten, denken wir etwa an Walter Gropius’ Faguswerke oder Peter Behrens AEG-Fabrik.
Transparent Factory, Dresden. Bild: © Volkswagen AG
Worin liegen die Vorteile, in der Stadt zu produzieren?
Die Vorteile sind im Grundsatz dieselben wie früher. In der Stadt ist die Auswahl von qualifizierten Arbeitskräften gross, die Konsumenten sind nah und entsprechend kurz sind die Verteilwege. Das führt zu einer Reduktion des ökologischen Fussabdrucks der Produkte respektive der dahinter stehenden Firmen. Ein weiterer Vorteil ist ihre Nähe zu Schulen und Ausbildungsstätten, was einen regelmässigen Austausch zwischen Theorie und Praxis ermöglicht, was grundsätzlich mehr Innovation bedeutet.
Wie sieht die städtische Fabrik der Zukunft aus? Was produziert sie?
Nun, die urbane Fabrik der Gegenwart wie der Zukunft ist klein und sauber. Oft sind es High-Tech-Teile oder Bestandteile grösserer Güter, die da hergestellt werden, oder Mode- und Design-Produkte. Auch im Bereich food and beverages gibt es zahlreiche Produktionsmöglichkeiten in der Stadt, also Lebensmittel und Getränke. Im Weiteren ist die so genannte Kreativwirtschaft meist in Städten zu finden, wo sie ein grosses Netz aus Zuliefern und Konsumenten erreicht. Jedoch handelt es sich dabei um kleine Produktionen, nicht um Massenprodukte.
Highland Park, Ford-Fabrik, Albert Kahn Architect, Detroit, 1910. Bild: Albert Kahn Associates
Fabrikgebäude können inszenierte Orte sein, Brands für die dahinter stehenden Firmen. Auch werden dort Führungen angeboten. Gehören Fabriken zu unserem Freizeitangebot?
Fabriken waren im Grunde seit dem frühen 20. Jahrhundert stets auch Orte, wo man die Herstellung der Produkte mitverfolgen konnte. Man denke etwa an Henry Fords Fliessbänder, wo Kunden kamen und sahen, wie das Auto, das sie bestellt hatten, zusammengebaut und gefertigt wurde. Heute bieten Fabriken oft gezielt Führungen an, um ihre Waren als auch den Brand als ganzes zu vermarkten. Auf diese Weise kann gezeigt werden, dass die Produktion authentisch und fair ist. Dies alles gehört zur so genannten experience economy, wobei Transparenz ein wichtiges Kriterium ist.
Handwerksbetriebe haben oft kleine Läden, wo man die vor Ort hergestellten Produkte kaufen kann. Auch Fabriken haben Shops. Ist das Handwerk ein Vorbild für die grossen Produzenten?
Das Handwerkermodell ist sehr interessant. Die Leute kaufen nicht einfach ein fertiges Produkt, von dem sie nicht wissen, wie es gemacht ist. Menschen sind heutzutage fasziniert von derlei Handfestem. Vielleicht gerade auch, weil wir viel Zeit an Computern verbringen, wo das, was «dahinter» abläuft, für die meisten von uns sehr abstrakt und keineswegs nachvollziehbar ist. Ich finde es zudem bemerkenswert, dass Eltern von Familien, die im Silicon Valley leben, ihre Kinder gerne an Rudolf-Steiner-Schulen schicken, just weil sie wollen, dass ihre Kinder handwerklich arbeiten. So werden städtische Produktionsbetriebe, wo man beispielsweise sehen kann, wie Bier gebraut wird, zu eigentlichen Schaubetrieben oder showrooms.
Also brauchen sich Fabrikbauten in den Städten nicht zu verstecken?
Eigentlich können Fabriken und Handwerksbetriebe doch Stolz auf ihre Arbeit sein. Wir laufen an ihren Hallen oder Schaufenstern vorbei und sehen, wie dort gearbeitet wird. Das ist auch für die Arbeiter und Handwerkerinnen schön, wenn die Leute zusehen, wie sie ihre – oft hochwertigen – Produkte herstellen. Damit sind sie nicht einfach anonyme Rädchen in einem grossen Getriebe, sondern letztlich mitverantwortliche Poduzenten. Das steigert ihren Berufsstolz und gibt der Arbeit einen neuen Sinn. Das ist eine gute Sache für beide Seiten, also die produzierende und die konsumierende.
Die Ausstellung Vertical Urban Factory ist bis zum 9. Mai 2015 in Lausanne in der Galerie Archizoom der epfl zu sehen.
Im Mai 2015 erscheint zudem bei Actar die Publikation: Nina Rappaport, Vertical Urban Factory (ISBN 978-84-15391-32-6); vgl. auch hier.
Nina Rappaport ist Kunsthistorikerin, freischaffende Kritikerin und Kuratorin. Sie lebt in New York.