Was ist modern – was fortschrittlich?

Inge Beckel
26. Oktober 2017
Sun and moon hall, Jabreen Fort. Bild: ib

Der Oman liegt im südwestlichen Zipfel der arabischen Halbinsel. Es ist ein Land mit einer Fläche von über 300'000 Quadratkilometern und knapp drei Millionen Einwohnern. Er ist derzeit gleichzeitig ein beliebtes Reiseziel, besonders von Schweizern. Eine Reise durch den Nordwesten des Landes lässt die Besucherin die Hauptstadt Muskat, die alte Regierungsstadt Nizwa sowie kleinere Orte und Dörfer erleben. Und wirft dabei Fragen danach auf, was modern ist. Und was Fortschritt bedeutet.

Jabreen (auch Jibreen geschrieben) ist eine Burg bei Nattalah. Imam Bel’arab bin Sultan Al Yarubi liess sie im späten 17. Jahrhundert errichten. Dies tat er in Friedenzeiten. Er machte Jabreen damit mehr zu einem Palast denn einem Wehrbau. Imam Bel’arab bin Sultan Al Yarubi soll ein Liebhaber der Künste gewesen sein, und Jabreen wird mitunter als schönstes Fort des Oman bezeichnet. Wie in vergleichbaren Gebäudekomplexen finden sich darin neben Regierungszimmern auch die Privatgemächer und Wohnräume der ehemaligen Bewohner und Bewohnerinnen. Jabreen ist ein gewaltiges Gebäudekonglomerat mit grossen und kleinen Innenhöfen und den verschiedensten Zimmern und Kammern, einmal klein und dunkel, dann gross und hell. Verbunden werden sie über unzählige unterschiedlich lange und verwinkelte Treppenläufe. Es handelt sich grundsätzlich um Lehmbau-Architektur.

Blick von Jabreen auf die Palmenhaine der Umgebung. Bild: ib

Niederschwellig gekühlt
Ein sehr schönes und wohl proportioniertes Zimmer ist das sogenannte Sonne-und-Mond-Zimmer, die sun and moon hall. Es ist ein rechteckiger hoher Raum. Der Fussboden ist vollflächig mit Teppichen ausgelegt – wie im Oman noch heute üblich –, die Decke eine reich verzierte Holzbalkenkonstruktion. In den massiven Lehmwänder sind zahlreiche Vertiefungen oder Nischen eingelassen, die sich über die gesamte Höhe der Wände verteilen und jeweils als vertikale Bänder organisiert sind. Einige sind als offene oder dann vergitterte Fenster ausgestaltet, wobei sich jene Öffnungen, die einen fantastischen Blick auf die umliegenden Palmenhaine freigeben, auf Fussbodenhöhe befinden. Die ornamental vergitterten Fenster befinden sich unter der Decke.
 
Setzt man sich an eines der auf Bodenhöhe rundum an den Wänden verteilten Kissen, erschliesst sich einem plötzlich die Weite der umliegenden Landschaft. Noch heute sitzen die Menschen im Oman oft auf Teppichen und Kissen am Boden, auch wenn ihre Wohnzimmer meist mit Tischen und Stühlen oder Sofas, wie wir sie kennen, möbliert sind. Letztere aber sind Anpassungen ans moderne Leben, das auch hier, aus dem Norden respektive Westen kommend, assimiliert wurde. Der Sonne-und-Mond-Raum in Jabreen aber zeigt klar, dass der Raum ursprünglich für den Blick von am Boden sitzenden Menschen konzipiert wurde. Die oberhalb der Fenster folgenden Nischen sind Gestelle, worin sowohl Geschirr und anderer Hausrat als auch Schriften und Bücher aufgewahrt werden.
 
Die obersten vergitterten Öffnungen lassen einerseits nochmals etwas Licht ein. Gleichzeitig dienen sie der Lüftung – und damit Kühlung. Denn indem warme Luft bekanntlich aufsteigt, zirkuliert in dem hohem Raum ein kontinuierlicher Luftzug. Sicherlich kann mit einem derartigen System ein Zimmer nicht auf 20 Grad oder tiefer heruntergekühlt werden. Doch bei einer Aussentemperatur von beispielweise 38°C empfindet man eine Innenraumtemperatur von etwa 27°C als angenehm, zumal stets ein leichtes Lüftchen durch den Raum zieht. Ein weiterer Vorteil dieses Systems ist, dass die Wechsel vom Innen- in den Aussenraum oder umgekehrt sanfter ablaufen als ginge man von heruntergekühlten 19°C Innenraumtemperatur nach draussen mit 38°C oder mehr.

Bait al Safah, enge Gassen und kleine Rinnsale führen, trotz Hitze, zu einem recht angenehmen Aussenraumklima. Bild: ib

Verdichtet und bewässert
Stellt Jabreen Fort ein Beispiel eines gehobenen, einflussreichen Lebens dar, repräsentieren der Weiler Bait al Safah in Al Hamra oder Misfat al Abriyyin normale Dörfer, wo die Menschen ein einfaches Leben lebten. Ja, meist lebten. Denn das Ensemble Bait al Safah beispielsweise ist grundsätzlich verlassen, die Häuser stehen leer, sind teilweise verfallen. Nur ein anschauliches und von Einheimischen bespieltes Museum demonstriert den Fremden das alte Leben. Sicherlich bieten die Lehmbauten nicht den modernen Komfort, den wir kennen und den auch die Omani heute schätzen. Vor allem sucht man in den alten Lehmhäusern Küchen und Badezimmer mit fliessendem Wasser vergeblich. Sicherlich gibt es geräumige, wiederum hohe Küchen mit einer Herdstelle. Doch frisches Wasser muss herbeigebracht werden.
 
Siedlungen wie Bait al Safah oder weiter etwa Misfat al Abriyyin sind mehrheitlich Lehmsiedlungen, teilweise kombiniert mit Steinen im Fundamentbereich, die vor Ort gewonnen werden. Wie im gehobenen Lehmbau weisen auch einfachere Ausführungen massive Wände auf mit Fensteröffnungen auf Bodenhöhe, zahlreichen Ablage-Vertiefungen in den Wandflächen und Gitterfenstern unter Deckenhöhe. Das Lüftungssystem ist dasselbe. Doch auch wer sich ausserhalb der Häuser aufhält, befindet sich durch die engen und verwinkelten Gassen der Dörfer generell im Schatten. Weiter grenzen begrünte Gartenanlagen unmittelbar an die Dorfsiedlungen an. Diese Gärten werden durch ausgeklügelte Bewässerungssysteme mit Frischwasser versorgt, die mittels Geländegefällen und Wasserdruck wirken und in kleinste Rinnsale münden, die das Wasser feinverteilen. Das Bewässerungssystem kommt damit ohne zugeführte Fremdenegie aus. Neben der Bewässerung der Pflanzen wird die Luft angenehm gekühlt.
 
Inzwischen ist manches Haus an fliessend Wasser und Elektrizität angeschlossen, unter anderen etwa die Gasthäuser in Misfat al Abriyyin. Nichtsdestotrotz, das Leben in den Dörfern ist einfach, wie es jenes von abgelegenen Weilern des Tessins auch war und noch sein kann. Wohlgemerkt, Mobiltelefone mit Zugang auf’s world wide web gibt’s fast überall. Doch kämpfen abgelegene Dörfer wie Misfat al Abriyyin genauso gegen die Abwanderung, wie es ländliche Gegenden hierzulande erleben. Entsprechend sind die alten Bewässerungssysteme heute schlecht unterhalten. Ein Gegentrend stellt der Tourismus dar, wobei hier ein nachhaltiger Tourismus in Kleingruppen anvisiert werden muss.

Siedlungslandschaft heute. Bild: ib

Technik-Fokus versus breitere Sicht
Die meisten Menschen haben, wie gesagt, die alten Lehmbauten und -siedlungen verlassen und ziehen in moderne, freistehende Häuser, wie wir sie bei uns seit Jahrzehnten kennen. Im Oman sind derzeit grosse Autobahnprojekte in Bau, die Zersiedelung nimmt ihren gewohnten Lauf. Die Häuser, Wohn-, Geschäfts- und Hotelbauten, werden mittels Air-Condition gekühlt, moderne Bäder und Küchen sind die Regel. Das arabische Land hat den Anschluss an Moderne und Fortschritt vollzogen.
 
Das ist verständlich und erfreulich, die Annehmlichkeiten von fliessend Wasser und modernen Küchengeräten sind unbestritten. Nichtsdestrotrotz darf die Frage nach der Nachhaltigkeit dieser Entwicklung gestellt werden, wie wir sie bei uns in regelmässigen Zyklen ebenfalls stellen. Letzten Endes geht es einmal mehr um die kurzfristige Befriedigung einzelner fokussierter Bedürfnisse mittels Technologie auf der einen Seite und eine langfristige gesamtheitliche Sicht, die mehrheitlich auf einfacherer Technik und traditionellen Systemen basiert, auf der anderen. Erstrebenswert wird es mittelfristig wohl sein, die beiden Denkweisen und entsprechenden Techniken sinnvoll kombinieren zu lernen.


Die Professur für Nachhaltiges Bauen veranstaltet im Hauptgebäude der ETH Zürich die Ausstellung «THINK Earth!» über zeitgenössischen Lehmbau in der Schweiz. Vom 30. Oktober bis zum 6. November 2017.

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