Eine Funktion pro Raum ist nicht genug!
Inge Beckel
21. Juni 2012
Dieser Raum früherer Zeiten illustriert eine Form des room-sharing: schlafen, essen, Radio hören – alles in demselben Zimmer (Bild: flickr/konnysonny)
Überlegungen anlässlich des zunehmenden Unbehagens der Bevölkerung gegenüber dem anhaltenenden Bauboom. Und zu Stockwerkeigentum, Möglichkeiten des room-sharing sowie dem Einfluss der Moderne auf die räumliche Verzettelung heute. ib
Das Kanton-Zürcher Stimmvolk hat letztes Wochenende die Kulturlandinitiative angenommen. Rund 1000 Hektaren Ackerland, das zur Überbauung vorgesehen war, kann nicht mehr eingezont werden. Das ist die eine Seite. Volle Auftragsbücher verzeichnet die gesamte Baubranche, das die andere. Es scheint, dass sich angesichts all der Baukräne landauf landab zunehmend ein Unbehagen in der breiten Bevölkerung einschleicht; ein Unbehagen, das die Zustimmung zu Initiativen bewirkt, die von der Mehrheit der Politiker und Politikerinnen zur Ablehnung empfohlen werden – so geschehen bei der Kulturlandinitiative und vor drei Monaten bei der Weberschen Zweitwohnungsinitiative. Die Folge: Verdichten heisst das zentrale Verdikt. Doch darf diese nicht allein eine bauliche Verdichtung sein, es muss vermehrt auch wieder zum Nutzungsmix, also zur Überlagerung verschiedener Nutzungen und Tätigkeiten in denselben Räumen kommen – gleichzeitig und zeitlich verschoben. Gewissermassen zu «room-sharing».
Bewirtschaftete Ferienwohnungen beispielsweise verzeichnen heute mitunter Belegungsraten von rund 30 Prozent im Jahr, im Schnitt werden sie also jeden dritten Tag bewohnt. Das ist schon gut. Macht ein Eigentümer jedoch vier Wochen Ferien in der eigenen Zweitwohnung, ohne sie weiterzuvermieten, liegt die Belegungsrate nicht einmal bei acht Prozent. Wird eine Wohnung schliesslich als reine Kapitalanlage erworben – im Engadin wurde in 340 Haushalten während fünf Jahren kein Strom gezählt, so war im März 2011 in der NZZ zu lesen – liegt sie bei null. Im Gegensatz zu Bankkonten, wo das Vermögen ja auch liegen könnte, stehen Liegenschaften in der Landschaft oder der Stadt. Sie wirken auf den öffentlichen Raum. Bauten besetzen Boden, egal, ob dieser in Privatbesitz ist oder der Allgemeinheit gehört. Boden schliesslich ist eine endliche Ressource, eine, die begrenzt ist. Wir sollten pfleglich damit umgehen.
Zurück zum Teilen von Raum oder zu möglichen Formen des «room-sharing». Das Bewirtschaften von Ferienwohnungen ist eine Möglichkeit, wobei die Belegungsraten durchaus noch steigen könnten. Das Vermieten von bestehenden Zweitwohnungen das andere. Hier zeigt sich ein weiteres Problem. Zahlreiche Ferienwohnungen etwa aus den 1970er-Jahren sind sanierungsbedürftig. Sie weisen nicht den inzwischen üblichen Standard bezüglich Komfort auf und sind folglich oft für Eigentümer wie für allfällige Mieter unattraktiv. Doch viele dieser Wohnungen harren der Erneurung. Warum? Möglichweise fehlt den Eigentümern das nötige Geld – oder sie investieren es andernorts. Oder es handelt sich um eine Eigentümergemeinschaft, etwa wenn Geschwister das Familienferienhaus gemeinsam erben. Die Schwester will sanieren, ihr Bruder aber hat kein Geld. Die Liegenschaft ist blockiert. Viel gravierender jedoch ist es, wenn eine Stockwerkeigentümergemeinschaft handlungsunfähig ist.
1965 wurde das Stockwerkeigentum in der Schweiz rechts-
kräftig. Die Vertragswerke variieren, gleichzeitig wird für bauliche Eingriffe oft Einstimmigkeit aller Eigentümer vorausgesetzt, jedenfalls bei Verträgen aus der frühen Zeit. Anders gesagt, hat eine Wohnungsbesitzerin kein Geld oder ist ein Wohnungseigentümer mit dem Sanierungsvorschlag nicht einverstanden, ist die Erneuerung blockiert. Nun datiert die erste Welle von Zweit- oder Ferienwohnungen just in diese Jahre – die Bauten haben inzwischen 40 Jahre auf dem Buckel, eine Sanierung wird von Jahr zu Jahr dringlicher. Wie man hier vorgehen kann oder soll, ist weitgehend unklar – verbindliche juristische Entscheide fehlen. Möglich sind Kommunikation, Verhandeln, Ermuntern … Noch unklarer ist die Situation, sollte sich eine Eigentümergemeinschaft für Abriss und Neubau der baufälligen Liegenschaft entscheiden. Etwa: Wie werden die Wertquoten bei vergrössertem Volumen verteilt?
Die Notwendigkeit, bestehenden Raum generell gut auszulasten, zeigt sich aber besonders in städtischen Regionen. Denn neben der Schwierigkeit, in Metropolitan-
regionen überhaupt Wohnraum zu finden, ist unsere Mobilität hoch – wir fahren übers Wochenende weg, wir treffen Verwandte und Freunde, besuchen die Art Baseloder sonst eine kulturelle Veranstaltung, wir sind beruflich unterwegs. Gerade berufliche Verpflichtungen lassen heute viele Menschen zwischen Regionen pendeln, ohne dass sie stets gleichentags nach Hause fahren. Die Alternative zum Hotel ist das eigene Zimmer: in einer WG, einer Wohnung – allenfalls ein Cluster in einem Grosshaushalt, wie von der Genossenschaft Kraftwerk realisiert. Gerade derartige Modelle sollten weiterentwickelt werden, auch für Arbeitsnomaden und -nomadinnen! Überdies braucht es professionelle Wohnungs-, Cluster- oder Zimmervermittler, auch und besonders im Mietsektor und auf Teilzeit-Basis.
Viele Räume werden also nur punktuell genutzt, während sie die meiste Zeit leer stehen. Mitverantwortlich letztlich ist gewissermassen die architektonische Moderne, die da forderte: «form follows function». Sinngemäss erhält damit jede Funktion einen eigenen Raum. Die Folge ist ein unglaublicher Verschleiss, denn üben wir nicht gerade jene Funktion aus, steht das Zimmer leer! Schon 1920 gab der Autor Walter C. Behrendt in Das Werk zu bedenken: «Wie hat sich allein im Wohnhaus die Zahl der Räume durch diese Spezialisierung der Zwecke vermehrt! Um 1800 noch kannte man ausser dem gemeinsamen Wohnraum […] und der Küche für besondere Zwecke nur noch die Schlaf- und allenfalls die Kinderzimmer. Heute wird neben dem Wohnzimmer ein besonderes Esszimmer gefordert, ferner ein Herrenzimmer, vielleicht auch ein Damenzimmer und Bibliothekzimmer, daneben wohl gelegentlich auch noch ein eigentliches Gesellschaftszimmer, dazu eine Flucht von Schlafräumen für die Eltern, Kinder und Gäste nebst Ankleidezimmern.»
Ein neues Kraftwerk für Zürich, Swiss-Architects eMagazin #1|12
Masse und Ko-Existenz, Swiss-Architects eMagazin #5|12
Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, Transcript Verlag, Bielefeld, April 2012