Concrete - Fotografie und Architektur
Jenny Keller
14. März 2013
Bild: Aage Strüwing, Arne Jacobsen: Rathaus von Rødovre, 1955, Silbergelatine-Abzug, 23,7 x 17 cm
Ein Gespräch mit Thomas Seelig, dem Kurator der Ausstellung im Fotomuseum Winterthur. Von Jenny Keller.
Kennen Sie das Gefühl, von einem Gebäude enttäuscht zu sein, das Sie zum ersten Mal in Natura sehen und davor nur als Fotografie kannten?
Ja, ich hatte einen solchen Moment bei einem Gebäude von Richard Meier. In den Fotografien ist alles immer schön geweisst, die Winkel sind alle im Lot. Die räumliche Wirklichkeit vor Ort ist dann etwas Anderes, es kommt sehr stark auf die Tageszeit und das Licht an.
Meist sind es Architekturikonen, die als Bild so gänzlich anders daherkommen als in Wirklichkeit. In der Ausstellung findet man die aber nicht. Haben Sie bewusst darauf verzichtet?
Es ist richtig, in der Ausstellung zelebrieren wir nicht die Ikonen der Architektur, wir reflektieren vielmehr wie Fotografie auf Architektur reagiert. Aber es gibt viele architektonische Highlights zu sehen. Mir fallen beispielsweise die Neutra-Häuser ein, die Julius Shulman fotografiert hat oder das Seagram Building von Mies van der Rohe, das Hiroshi Sugimoto in Szene gesetzt hat. Es gibt architektonische Highlights, die allerdings von den Fotografen interpretiert werden.
Bild: Hiroshi Sugimoto, Seagram Building, New York City, 1997, Silbergelatine-Abzug, 58,4 x 47 cm
Zum Titel: Concrete heisst Beton. Aber es geht nicht nur um Gebäude aus diesem Werkstoff. Wie kam man zu diesem Titel für die Ausstellung?
Es ging darum, einen möglichst offenen Titel zu finden, der kurz und prägnant ist. Es gibt viele Architekturausstellungen, die mit den Begriffen «Raum», «Bild», «Raumbild» und so weiter spielen. Wir fragten uns, ob wir uns da einreihen oder uns eher davon wegbewegen wollten. Natürlich ist es auch ein Schlagwort, das mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs im Englischen spielt: konkret und Beton. Titel und Untertitel muss man unbedingt zusammenlesen, zur Dialektik des Titels «Concrete» gehört der Untertitel genauso dazu: «Fotografie und Architektur».
Im Einleitungstext zur Ausstellung schreiben Sie: «Inwiefern beeinflusst die Fotografie nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch die Gestaltung von Architektur?» Haben Sie eine Antwort gefunden?
Es ist so, dass die Ausstellung Fragen stellt und durch Gliederung und assoziative Gruppierungen Antworten gibt. In «Tour d’horizon», «Aufbau, Verfall, Zerstörung» oder «Macht, Abgrenzung, Sicherheit» kreieren wir mögliche Denkräume. Jeder Raum erhält so seine eigene Dramaturgie. Unmittelbare fotografische Antworten kann man nicht geben, weil die Bilder nicht direkt zu uns sprechen, aber es gibt durchaus wirkungsvolle Nachbarschaften.
Bild: Guido Guidi, #1176 01 29 1997 3:30PM Looking Southeast, Aus Carlo Scarpa's Tomba Brion, 1997
Wie findet man diese Gliederungspunkte?
Das ist ein langer kuratorischer Prozess. Es gab den Punkt, an dem man sich fragt, ob man der Architekturfotografie mit nur einer Perspektive begegnen kann oder ob die 170 Jahre Fotogeschichte aus dem 19., 20. und 21. Jahrhundert, wie wir sie hier zeigen, nicht aus vielen verschiedenen Geschichten besteht. Gerade wenn man sich andere spannende Ausstellungen in diesem Feld anschaut, merkt man, dass jede Präsentation einen eigenen Deutungsvorschlag macht. Wir stellen in den grossen Räumen auf beiden Seiten der Grüzenstrasse aus, auf der einen Seite unter eher abstrakteren Themen und auf der anderen Seite unter einem „alltagsnäheren“ Ansatz, wo wir nach Häusern, Siedlungen und Städten gliedern.
Bild: Anonym, Hardstrasse mit Hardbrücke im Bau, 1972, Silbergelatine-Abzug, 8,8 x 12,6 cm
Ich war erstaunt, dass da Winterthur neben Chandigarh und New York City zu stehen kommt.
Die Räume zu Zürich und Winterthur haben sich daraus ergeben, dass wir angewandte Archive in diese Ausstellung hineinnehmen wollten. Das Baugeschichtliche Archiv in Zürich oder das Sulzerarchiv in Winterthur sind Orte, wo man wunderbare Architekturfotografien finden kann, wie sie nur in dieser Gegend entstehen konnten. Die Bilder von Züri-West haben wir zu 90 Prozent aus dem Baugeschichtlichen Archiv zusammengestellt und ihnen einige zeitgenössische Künstlerpositionen wie die von Andrea Good oder die fotografische Langzeitbeobachtung von Schlieren von Meret Wandeler und Ulrich Görlich entgegengestellt. jk
Die Vorwegnahme der Fotografie, das Rendering, hat keinen Platz in der Ausstellung gefunden. Weshalb nicht?
Die Vorstufe des Renderings, nämlich die Collage, die Montage, das Modell ist in der Ausstellung vertreten. Und es gibt auch gerenderte Gebäude, zum Beispiel die „Bildbauten“ von Philipp Schaerrer, die komplette Illusionen sind. Sie sind bloss so nahe bei der gewöhnlichen Erscheinung von Architekturfotografie positioniert, dass man sie nicht mehr als Illusionen erkennen kann. Man muss sich entscheiden, ob man einen Blick auf die Fotografie oder auf ihre Anwendung wagt– wir schauen eher auf das Wesen der Fotografie.