Alfred Altherr
Juho Nyberg
24. Oktober 2013
Verpasst: Die Centovallibahn führt unter dem Haus hindurch. (Alle Bilder © Nachlass Alfred Altherr Junior)
Trotz seiner vielseitigen Tätigkeiten ist der Architekt Alfred Altherr nur wenigen bekannt. Seine architektonischen Entwürfe sind funktional organisiert, zeugen dabei aber immer auch von seiner individuellen Auffassung von Wohnen.
Der Kanton Tessin ist schon seit je her einer der liebsten Fluchtpunkte der Deutschschweizer. Wem die mondänen Städte des Südkantons zu überlaufen sind, zieht sich gerne in eines der zahllosen Täler zurück. Hier paart sich die schroffe, felsige Landschaft mit üppiger Vegetation der verwinkelten, vermeintlich unergründlichen Täler – ein Hort der Ruhe.
Urtümliche Gasthäuser und Rustici aus örtlichem Granit dominieren die Ortsbilder der Dörfer, doch hie und da überrascht ein Haus, das eine ganz andere Geschichte erzählen will. Neben lokalen Tessiner Architekten wie Peppo Brivio oder Mario Botta haben schon immer auch ihre Kollegen von der Nordseite der Alpen ihre gebauten Spuren hinterlassen.
Beinahe alleine auf weiter Flur, unbemerkt auf einer Felskuppe im Centovalli, steht das 1964 errichtete Ferienhaus des Architekten Alfred Altherr. Durch den Felsen führt ein Tunnel die Bahnstrecke der Centovallibahn und lässt das auffällige Bauwerk unbemerkt. Beinahe ebenso versteckt es sich vor der vorbeiführenden Landstrasse. Dabei zieht das moderne, leichte Bauwerk, hat man es einmal entdeckt, die ganze Aufmerksamkeit auf sich.
Blickfang: Die schlichte Geometrie des Hauses steht der schroffen Landschaft gegenüber.
Klare Ordnung
Während man den steilen Pfad zum Haus erklimmt, sind seine ersten Facetten bereits zu erkennen: die zweigeschossige Struktur setzt sich zusammen aus dem unteren Geschoss, dessen steinerne Erscheinung die Funktion als Sockel unterstreicht und es beinahe als aus dem Fels gewachsen wirken lässt. Trotz der strengen geometrischen Form ist auch eine Verwandtschaft zu den ortstypischen Rustici erkennbar. Über dem Sockel thront das Erdgeschoss. Die leichte Auskragung des Volumens und die Materialisierung in Sichtbeton betonen die Hierarchie und lassen keinen Zweifel am modernen Architekturverständnis Altherrs.
Doch wird dadurch nur eine klare Ordnung der Dinge geschaffen, der Betonkörper kommt nicht in brutaler Manier daher. Vielmehr scheint er sich nach dem ersten starken Eindruck bescheiden zurück zu nehmen, reduziert sich bergseitig gar auf Brüstungshöhe und lässt in der Hauptfassade der verspielt geschnittenen Betonbrüstung zusammen mit der leicht zurückversetzten Glasfassade den Vortritt.
Am Sockel des Hauses angekommen, erklimmt man über die luftig auskragenden Granitstufen zunächst das untere Geschoss. Der gedeckte, aussen liegende Vorplatz, in den ursprünglichen Architektenplänen gar als «Halle» bezeichnet, empfängt den Besucher. Tatsächlich entfaltet bereits dieser mit wenigen Mitteln inszenierte Ort eine Raumwirkung. Durch die grosse Glastüre ist der Innenraum der kleinen Gästewohnung zu erkennen. Dank der sich im Innenraum fortsetzenden Materialisierung der Wand verweben sich Innen und Aussen zu einer Einheit. Dass dies nicht als blosser Effekt inszeniert ist, sondern gewissermassen das Konzept des Hauses veranschaulicht, wird im darüberliegenden Hauptgeschoss noch deutlicher.
Pavillionhaft: Das offene Wohn-Esszimmer im oberen Geschoss.
Gefangener Garten
Nach einem weiteren Aufstieg über die Granitstufen findet man sich zunächst vor einer roten Stahltür in einer Wand aus Sichtmauerwerk wieder. Hinter dieser brut anmutenden Wand verbirgt sich ein wahrer hortus conclusus, ein präzise gefasster Gartenhof. Ein Winkel aus zwei gemauerten Wänden bildet den Rücken des Hofes, während die anderen beiden Seiten durch die Vorderkante des Betonbügels und die filligrane Verglasung des Wohnraums gehalten werden. Strukturiert wird der Hof primär durch einen Höhenversatz. An dessen Kante befindet sich eine Interpretation des traditionellen Grotto-Tisches. Entgegen der üblichen Schwere solcher Tische scheint dieses Exemplar aus Beton allerdings gerade im Begri" zu sein abzuheben. Der Kamin an der Rückwand, zwei ausladende Bäume und der Boden aus frei verlegten Granitplatten unterstreichen die Stimmung, die man auch in den lokalen Beizen antrifft.
Stark kontrastiert dazu die höher gelegene Ebene, deren Boden aus einer glatten Betonplatte gebildet wird. Zwei feine Stützen deuten eine Kolonnade an. Der Schatten des durch die Stützen gehaltenen Vordaches wandert im Verlauf des Tages über den Betonboden. Zum Abend traut man sich auch im heissen Sommer nach vorne, um den Blick ins Tal zu geniessen. Fast unmerklich überwindet man die Linie zwischen Innen und Aussen, die Teilung der Verglasung korrespondiert perfekt mit der Betonbrüstung der Terrasse und den Stützen, die sich im Inneren fortsetzen. Quer zur Fassade liegend fasst der mit Granit verkleidete Kamin den Wohnraum. Dahinter liegt der Arbeits- und Schlafraum, dessen eichenverkleidete Wände eine neue Farbe ins Spiel bringen. Sie sind als Futter der Schale zu verstehen, kündigen sich schon zuvor an, indem das diskret angeordnete Bad bereits damit verkleidet ist.
Die moderne Interpretation des Grotto-Tisches in Beton.
Ursprüngliches Konzept
Der Originalzustand des Hauses gemäss Alfred Altherrs Entwürfen bestand im oberen Geschoss tatsächlich nur aus einem Schlafzimmer. Eine weitere Schlafgelegenheit bot sich im Wohnzimmer, die entsprechende Möblierung mit einem Stahlrohrbett ist in den Fotografien der 1960er Jahre zu sehen. Daneben stehen selbstverständlich zwei Sessel aus Kastnienholz, ein Entwurf Altherrs, gegenüber ist ein weiterer Essplatz eingerichtet, Küche und Speisekammer liegen unauffällig angeordnet dahinter. Die untere Wohnung funktionierte als eigene Einheit, ihre Ausstattung liess gegenüber der oberen kaum etwas vermissen – abgesehen von der atemberaubenden Aussicht. Anstelle des separaten Schlafzimmers war hier unten eine Werkstatt für den Hausherren eingerichtet.
Sanfte Anpassungen
Nach längerem Leerstand fand das Haus vor einigen Jahren neue Besitzer. Unter den vielen Tessinliebhabern scheinen die meisten auf der Suche nach einem traditionellen Rustico zu sein, deren Bedürfnisse der kühne Wurf Altherrs nicht bedient – zum Glück. Die neuen Hausherren hingegen haben ein sehr herzliches und inniges Verhältnis zu ihrem Haus. Mit einigen wenigen, unauffälligen Eingriffen haben sie es ihren Bedürfnissen angepasst, ohne dabei den Geist des Architekten aus den Augen zu verlieren: Um die beiden Geschoss zu einer Einheit zusammen zu führen, wurde eine interne Treppe eingebaut, so dass man nun vom Schlaf- und Arbeitszimmer in die darunter gelegene, ehemalige Werkstatt gelangen kann. Materialisierung und Formensprache dieses kleinen Eingriffs passen ausgezeichnet zur Vorgabe Altherrs. Die weitgehend erhaltene Originalmöblierung wurde um einige passende Stücke aus der Gegenwart ergänzt und vermitteln so gemeinsam den Eindruck, wie bereits in einer Reportage April 1970 bemerkt wurde: «Es ist ein ideales Haus.»