Wie ein Buch einem Baudenkmal Aufmerksamkeit verschafft
Elias Baumgarten
26. Oktober 2023
Foto: Elias Baumgarten
Das Ensemble Chauderon ist ästhetisch einzigartig, architektonisch und städtebaulich gelungen und bautechnisch eine Meisterleistung. Trotzdem war das Interesse an der Architekturikone der 1970er-Jahre bisher gering. Das könnte sich nun ändern.
Drei Bauten schweben auf einem verglasten Sockel, über den in Trögen wurzelnde Pflanzen wuchern. Ihre leichten Fassadenpaneele aus Aluminium glänzen silbern. Verspiegelte Fensterscheiben, die in dicken schwarzen Neoprendichtungen sitzen, schimmern in einem Bronzeton. Und dahinter: Innenwelten geprägt von abgerundeten Formen, leuchtendem Orange, Rohrleitungen und Pyramidendecken mit integrierten Leuchten. Was wirkt wie die Szenerie eines Science-Fiction-Films, ist eine der bemerkenswertesten Anlagen der modernen Schweizer Architektur: das Verwaltungs- und Geschäftsensemble an der Place Chauderon in Lausanne, fertiggestellt 1974. Die Bauten, gestaltet von Atelier des Architectes Associés (AAA) und Paul Dumartheray, sind ein Zeitdokument par excellence. Mit ihrer Architektursprache, die an Autos und Flugzeuge, ja sogar an Raumschiffe erinnert, und ihrer bautechnisch hochanspruchsvollen Konstruktion stehen sie für eine Zeit, die geprägt war vom Glauben an den technischen Fortschritt und von einer Faszination für die Raumfahrt, eine Zeit, in der ohne die Hilfe von Computern Maschinen entwickelt wurden, die heutige Ingenieure staunen lassen. Und doch hat es nie eine umfassende Publikation zu der Westschweizer Architekturikone gegeben – bisher. Denn nun widmen Christina Haas und Harald R. Stühlinger ihr den zweiten Band der Serie «swissmonographies». Die Bücher sollen unsere Aufmerksamkeit auf Bauwerke lenken, die trotz ihrer grossen Qualität bis anhin nur wenig Beachtung fanden.
Foto: Elias Baumgarten
Foto: Elias Baumgarten
Das erste Buch der Serie habe ich bereits gelesen, es behandelt Luigi Snozzis Casa Kalman im Tessin. Ich war damals beeindruckt von der grossen Sorgfalt, die aus Buchgestaltung und Texten sprach. So waren meine Erwartungen an Band zwei natürlich hoch – und sie wurden nicht enttäuscht: Wieder kommt das Buch in einem handlichen Format daher. Das macht das Lesen angenehm. Und es ist von Pascal Storz, Fabian Bremer, Hannes Drissner und Lucas Manser ansprechend gestaltet – obschon ich mir zuweilen weniger Monotonie gewünscht hätte, wie etwa bei der von Ludovic Balland wundervoll gestalteten Baumonografie zu Lux Guyers Haus «Obere Schiedhalde». Dort entwickelt sich über die Seiten hinweg ein visueller Rhythmus. Mit seinem geprägten Einband und dem sehr hochwertigen Papier (Munken) erfreut «Ensemble Chauderon – AAA» wohl jeden Buchliebhaber. Prima sind die ausklappbaren Seiten mit Plänen. Doch Vorsicht: Das dünne Papier will behutsam behandelt werden, sonst gibt’s schnell hässliche Eselsohren. Etwas störend ist beim Lesen die Vermischung von deutscher und englischer Version. Zwar ist schnell klar, Deutsch links, Englisch rechts, und doch würde eine unterschiedliche Gestaltung helfen. Mitunter entsteht eine gewisse «Sucharbeit», die den Lesefluss unterbricht.
Foto: Elias Baumgarten
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Inhaltlich ist das Buch klar strukturiert: Auf eine Beschreibung des Kontexts und der Anlage selbst folgen Beiträge zur Entwicklung und zum Bau, zur Nutzung und zur baukulturellen Bedeutung. Besonders geblieben ist mir zum Beispiel die überzeugende Erklärung der städtebaulichen und architektonischen Qualität des Ensembles. Zwischen der Place Chauderon, der Pont Chauderon und der Rue de Genève gelegen, besetzt der Komplex einen wichtigen Punkt in Lausannes Stadtlandschaft. Aus allen Richtungen ist er schon von weitem zu erkennen. Die Bauten fassen einen schönen, vom Verkehrslärm abgeschirmten Platz, der gegenüber dem Niveau der Place Chauderon abgesenkt ist. Es muss immer ein Höhenunterschied überwunden werden – gleich, ob man nun von der Place Chauderon, der Pont Chauderon oder dem Flon-Tal kommt. Passantinnen und Passanten stehen dafür etliche Treppen, Rampen und Aufzügen zur Verfügung, Kinder können über eine Rutschbahn sausen – grossartig.
Foto: Elias Baumgarten
Foto: Elias Baumgarten
Beeindruckend ist auch die Konstruktionsweise der Bauten: Die Decken sind an vergleichsweise filigranen Elementen von mächtigen Fachwerkträgern aus Stahl abgehängt, die auf massiven Betonkernen aufliegen. Dieses verwegene Tragwerk, an dem der bekannte französische Architekt und Designer Jean Prouvé mitwirkte, macht es möglich, dass die Bauten über dem Sockel zu schweben scheinen. Baustellenfotos und Pläne im Buch geben einen guten Eindruck von der enormen Leistung der Gestalter und Konstrukteure. Wie eingangs geschrieben: Die Anlage macht den Zeitgeist der 1960er- und 1970er-Jahre augenscheinlich.
Mit dem Buch gelingt es, die (bau)geschichtliche Bedeutung des Ensembles herauszuarbeiten. Beim Lesen bin ich mir bewusst geworden, wie sehr die Anlage für ihre Entstehungszeit stehen kann und von welch grosser architektonischer Qualität sie ist. Kurz, auch dieser zweite Band der Reihe «swissmonographies» ist vollauf zu empfehlen.
Foto: Elias Baumgarten
Die Buchvernissage findet am 2. November um 17.30 Uhr in der Bibliothek Chauderon (Place Chauderon 11, 1003 Lausanne) statt. Mehr Informationen
Ensemble Chauderon – AAA
Harald R. Stühlinger (Hrsg.)
Christina Haas und Harald R. Stühlinger
170 x 225 Millimeter
196 Seiten
113 Illustrationen
Gebunden
ISBN 978-3-85616-998-5
Christoph Merian Verlag
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