Werden, Sein, Vergehen

Inge Beckel
6. Juni 2019
Gibellina Vecchia, Cretto di Burri, Mitte der 1980er-Jahre (Foto: Inge Beckel)

In der Nacht auf den 14. Januar des Jahres 1968 wurde das Belice-Tal, rund 32 km nördlich der antiken griechischen Stätte Selinunt gelegen, von einem starken Beben erschüttert. 251 Menschen starben, 100'000 wurden obdachlos. Sechs Ortschaften wurden zerstört, darunter Poggioreale und Gibellina. Die Rettungsmassnahmen liefen nur zögerlich, die Mittel für den Wiederaufbau flossen langsam. Viele Menschen richteten sich über Jahre in behelfsmässigen Unterkünften ein.

Foto: Inge Beckel
Foto: Inge Beckel
Neuplanungen

Doch anstatt den Wiederaufbau vor Ort voranzutreiben, beschlossen die Verantwortlichen, ihre Dörfer an einem neuen Ort in der Nähe der zerstörten Siedlung an die Hand zu nehmen. So etwa die Menschen von Poggioreale. Etwas südlich und leicht tiefer gelegen als das alte entstand ihr neues Dorf, das sich in Sichtweite des vorigen befindet. Die neue Siedlung wurde ähnlich einer Gartenstadt gestaltet, mit breiten Strassen. Anders entschied der damalige Bürgermeister von Gibellina. Er machte sich daran, rund 15 km westlich und ohne Sichtkontakt zum Vorgängerort, nahe der Autobahn, Gibellina Nuova zu realisieren. Zusammen mit engagierten Architekten und Künstlern wurde wiederum eine gartenstadtähnliche Bebauung angelegt.

Mit ihren geplanten, weit gefächerten Grundrissen können diese Orte mit den herkömmlichen, gewachsenen, meist dichten und unregelmässigen Siedlungsstrukturen – wie sie Sizilien mehrheitlich auszeichnen – jedoch nicht verglichen werden. So sind angesichts der oft sengenden Hitze die Strassenzüge zu breit und spenden kaum Schatten. Die Menschen tun sich oft schwer in diesen neuen Orten; Gibellina Nuova etwa ist stark von Abwanderung betroffen.

Ruinendorf des alten Poggioreale (Foto: Inge Beckel)
Die alten Dörfer

Während das alte Poggioreale zu einer Ruinen- oder Geisterstadt wurde, ist Gibellina Vecchia demgegenüber heute Mahnmal und Kunstwerk zugleich. Anfang der 1980er-Jahre legte Alberto Burri eine eineinhalb Meter dicke Betonschicht über die Baufelder des zerstörten Dorfes  – eine Art «Leichentuch». Ausgespart blieben die Strassen und Gassen. Der Ort ist ein Anziehungspunkt für kulturinteressierten Touristen – oder wird von Schäfern mit ihren Herden besucht.

Einen zerstörten Ort der Natur respektive sich selbst zu überlassen, ist in Sizilien nichts Ungewöhnliches. So weisen – als exemplarische Nennungen – die Orte Ragusa oder Noto ihrerseits durch Erdbeben (im 17. Jahrhundert) zerstörte alte Siedlungen auf. Im Falle von Ragusa blieb der alte Teil – Ragusa Ibla – bewohnt; Noto Antica ist eine Ruinenstadt. Werden, Sein, Vergehen – auf Sizilien findet sich lehrreiches Anschauungsmaterial zum Entstehen und Betreiben oder Sein von menschlichen Siedlungen – und deren Vergehen.

Vorgestelltes Projekt

fsp Architekten AG

Lokwerk Aufstockung Winterthur

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