Robuster Urbanismus setzt soziokulturelle Zeichen – zur Architektur des Pritzker-Preisträgers Liu Jiakun

Eduard Kögel | 7. März 2025
Gemeinschafts- und Kulturzentrum West Village, Chengdu, 2015 (Foto: mit freundlicher Genehmigung von Qian Shen Photography)

Der Pritzker-Preis geht dieses Jahr an Liu Jiakun. »An Liu wen?«, wird sich da mancher fragen, der nicht vertraut ist mit der Architekturszene in China. Liu gehört zur ersten Generation der Architekten, die nach der Kulturrevolution (1966–1976) studierten. Er erhielt 1982 sein Diplom in Chongqing und arbeitete danach in den Provinzen Tibet und Xinjiang für ein staatliches Designinstitut in Chengdu, der Hauptstadt der Provinz Sichuan. In den späten 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre wechselte Liu zur Schriftstellerei und war mit seinen Romanen recht erfolgreich. Ende der 90er eröffnete die Poetin Zhai Yongming die Bar White Nights in Chengdu, die zur produktiven Keimzelle für das Neue wurde. Dort traf sich der Architekt mit Künstlerfreunden und Auftraggebern wie den Malern He Duoling und Luo Zhongli zum produktiven Austausch. 

Liu Jiakun (Foto: mit freundlicher Genehmigung der Hyatt Foundation und des Pritzker Architecture Prize)
Die Anfänge

In den 1990er-Jahren begann Liu Jiakun mit kleinen architektonischen Experimenten für befreundete Künstler, die auf dem Land ihre Atelierbauten errichten ließen. In den Dörfern gab es eine Grauzone ohne konventionelles Baurecht, da die Bürgermeister für temporäre Bauten unbürokratisch eine Genehmigung erteilen konnten. In dieser Periode, in der Liu auch noch als Schriftsteller aktiv war, entwickelte er seine architektonischen Raumfolgen wie eine Erzählung, in der Wege und Inszenierungen mit Aus- und Einblicken eine bedeutende Rolle spielten. 

Ich traf Liu Jiakun durch die Vermittlung einer Freundin 2000 in Berlin. Auf dem UIA-Kongress in Peking, also dem Treffen der International Union of Architects, hatte ich im Jahr zuvor eine Zeitschrift gekauft, in der die eben genannten Studiobauten vorgestellt wurden. Mit Liu Jiakuns und Yung Ho Changs Hilfe – letzteren hatte ich ebenfalls 1999 während des UIA-Kongresses kennengelernt – konnte ich mit Ulf Meyer die Ausstellung »TU MU: Young Architecture form China« für das Architekturforum Aedes in Berlin entwickeln, in der wir neben den beiden den späteren Pritzker-Preisträger Wang Shu sowie Ai Weiwei, Ma Qingyun, Zhang Lei, Ding Wowo, Wang Junyang und Zhu Jingxiang vorstellten. Das war 2001 die erste Ausstellung zeitgenössischer chinesischer Architekten, die außerhalb des Landes stattfand und einem internationalen Publikum den Zugang zu dieser architektonischen Entwicklung eröffnete. 

Studio Luo Zhongli, Dujiangyan, 1996 (Foto: mit freundlicher Genehmigung von Jiakun Architects)
Studio He Duoling, Xipu, 1996 (Foto: mit freundlicher Genehmigung von Jiakun Architects)

Liu Jiakuns Architektur der ersten Jahre war als abstrakte Komposition in die ländliche Umgebung eingepasst. Mit einfachen Mauern, »geschmückt« mit Kieselsteinen aus dem nahen Fluss, groben Putzflächen und einfachen tektonischen Baukörpern ging er ans Limit dessen, was mit ungelernten Arbeitern möglich war. Seine Auseinandersetzung mit Le Corbusier, Charles Correa und Luis Barragán ist bei den architektonischen Lösungen spürbar – zum Beispiel bei der Xiyuan-Freizeitanlage. Die Suche nach angemessenen Technologien prägte seine Arbeit auch bei seinem ersten Museum für private Auftraggeber, dem Luyeyuan Stone Sculpture Museum, das mit einer verlorenen Schalung aus einer Backsteinwand im Innenraum nach außen wie eine massive Betonskulptur erscheint.

Seine architektonische Haltung, die er in den letzten 25 Jahren vor allem in seiner Heimatprovinz Sichuan entwickeln konnte, fokussiert auf die gesellschaftliche Realität und ist mit Respekt vor dem Kontext in die Umwelt eingebunden. Mit einem Gespür für lokale Lösungen interpretiert Liu historische Modelle auf zeitgenössische Weise. Nach den Anfängen im ländlichen Raum kamen Aufträge in der Stadt, für die neue Lösungen gefunden werden mussten. Die Lebensform, das Freizeitverhalten, die Straßenkultur und die kulturellen Nischen bildeten ein Substrat, aus dem er nach und nach poröse und mehrfach kodierte Räume entwickelte, die sich im laufenden Betrieb an die gesellschaftlichen Bedingungen anpassen lassen.

Xiyuan-Freizeitanlage, Xipu, 1996 (Foto: mit freundlicher Genehmigung von Jiakun Architects)
West Village, Chengdu, 2015 (Foto: mit freundlicher Genehmigung von Arch-Exist)
Liu Jiakuns Meisterstück: Das West Village

Das Großprojekt West Village Basis Yard in Chengdu ist in dieser Hinsicht ein außerordentlicher Beitrag zu städtebaulichen Fragen in den so rasant gewachsenen chinesischen Schlafstädten mit tausenden Apartments und nur wenigen Orten von gesellschaftlicher Bedeutung. Im West Village, das einen ganzen Block einnimmt (178 × 237 Meter) und die Modeszene sowie die Kreativen der Stadt zusammenbringt, kommt es nicht so sehr auf die Architektur an, sondern vielmehr auf die Stimulation der Nutzer, die hier kleinteilig kulturelle, künstlerische Events finden. Das Village wirkt wie ein kollektives Wohnzimmer in der Stadt, ein sozialer Container für das urbane Leben, der die Gemeinschaft vitalisiert. So entsteht soziale und kulturelle Nachhaltigkeit, die hier gelebt werden kann. Diese Art eines urbanen Inkubators trägt viel dazu bei, aus der Ansammlung von Häusern eine Stadt zu formen. Denn die Architektur ist bei Liu Jiakun kein Selbstzweck, sondern offeriert Räume der individuellen Entfaltung. Der Komplex verführt zu einer neuen Art lokaler Urbanität, die aus dem Druck der täglichen Bedürfnisse nach einer entspannenden Stadt und aus einem sehr ursprünglichen städtischen Lebensstil entstehen.

West Village (Foto: mit freundlicher Genehmigung von Qian Shen Photography)
Foto: mit freundlicher Genehmigung von Qian Shen Photography
Hu-Huishan-Gedenkstätte, Chengdu, 2009 (Foto: mit freundlicher Genehmigung von Jiakun Architects)
Die Hu-Huishan-Gedenkstätte

Im Gegensatz zur großen urbanen Struktur des West Village steht die neun Quadratmeter große Gedenkstätte für die Schülerin Hu Huishan, die beim Erdbeben in Sichuan im Mai 2008 beim Einsturz einer Schule ums Leben kam. Die Form der kleinen Gedenkstätte erinnert an ein einfaches Haus, ist im Inneren in der Lieblingsfarbe der Schülerin rosa gestrichen und steht neben der persönlichen Erinnerung auch beispielhaft für all die anderen wegen der schlechten Bauqualität ums Leben gekommenen Menschen der Region. 

Liu Jiakuns architektonische Sprache ist sensibel und kraftvoll. Mit einer radikal modernisierten Tradition verankert er seine Bauten wie nebenbei in der lokalen Geschichte. Er versteht es mit einem kleinteiligen Angebot die Nutzer zu provozieren, sich einzubringen und die Möglichkeiten der Räume für die zeitgenössische Kultur zu formen. Wenn Liu Jiakun nun mit dem Pritzker-Preis geehrt wird, dann erscheint neben dem Pritzker-Preisträger von 2012, Wang Shu, eine zweite zeitgenössische Stimme aus China im internationalen Diskurs, die nie eine Ausbildung an einer ausländischen Hochschule absolvierte. Seine architektonische Haltung und seine Konzeptionen sind aber nicht nur für China von Bedeutung, sondern können weit darüber hinaus auch in anderen Teilen der Welt als Vorbild dienen.  

Hu-Huishan-Gedenkstätte (Foto: mit freundlicher Genehmigung von Jiakun Architects)

Eduard Kögel gab dem Deutschlandradio für dessen Hörfunkprogramm Deutschlandfunk Kultur ein Interview zu Liu Jiakuns Architektur. Jetzt hören

Vorgestelltes Projekt 

Oliver Christen Architekten

Wohnhaus Burgmatt

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