Experimentieren im Baudenkmal

Corinne Riedener | 28. März 2025
Der Freisitz ist fast 600 Jahre alt. Zurzeit wird in dem Baudenkmal ein überregionales Zentrum für hochwertiges und experimentelles Handwerk aufgebaut. (Foto: © Ladina Bischof)

Dieses Haus ist eine Mogelpackung im besten Sinn: Auf den ersten Blick käme man nie auf die Idee, dass der hell verputzte Bau mit der teilgeschindelten Westseite an der Münchwilerstrasse in Tägerschen im Kanton Thurgau fast 600 Jahre alt ist – oder zumindest der Großteil davon. Betritt man das stattliche Gebäude, wird aber schnell klar: Hier lebt die Vergangenheit in jeder Ritze, hinter jeder Farbschicht, unter jedem Balken. Und doch ist es ein Haus für die Zukunft. 

Erstellt wurde der Freisitz Tägerschen um 1438 als dreigeschossiger Speicherbau. Das hat eine dendrochronologische Datierung ergeben, so nennt man die Altersbestimmung anhand der Baumringe auf Holzbauteilen. Im 17. Jahrhundert wurde er zu einem Wohnhaus im Barockstil umgebaut und mit einem Westanbau erweitert. Vervollständigt wurde das Ensemble mit einer Kapelle und einer Mühle. Bis 1871 diente es als Statthalterei und Gerichtsgebäude des Thurgauer Bezirks Tobel. Im 19. Jahrhundert wurde daraus eine Stickerei, später baute man eine Sennerei ein – beide hatten mäßigen Erfolg. 

2013 hat die Denkmal Stiftung Thurgau die historisch bedeutende Liegenschaft mit Hilfe von Kanton und Gemeinde gekauft. Sie sollte der Spekulation entzogen und wieder nutzbar gemacht werden. In den folgenden Jahren wurden Außenhülle, Dach und statische Elemente aufwendig restauriert. Seit 2023 ist der Verein Werkhaus Freisitz für die Nutzung und den Betrieb des Erdgeschosses und des ersten Obergeschosses verantwortlich. Die Vision: Das Werkhaus soll zum überregionalen Zentrum für hochwertiges und experimentelles Handwerk werden.

Im Rahmen eines internationalen Bildungsprogramms kooperiert der Verein Werkhaus Freisitz mit der Hochschule HTWG Konstanz. Gemeinsames Ziel beider Institutionen ist es, Handwerk, Architektur und Ingenieurwesen näher zusammenzubringen. (Foto: © Ladina Bischof)
Im Werkhaus finden regelmäßig Veranstaltungen statt. Bald soll man hier auch temporär wohnen können. (Foto: © Ladina Bischof)
Alle sollen näher zusammenrücken

Am ersten Märzsamstag bläst der Wind noch eisig ums Haus. Drinnen sorgen mobile Heizkörper für etwas Wärme, in der alten Küche knistert ein Feuer. In der großen Wohnstube nebenan findet gleich eine Buchpräsentation statt, die zum Ort passt: Vorgestellt wird das Buch »Farbkultur und Handwerk in Schweizer Regionen«. Die Restauratorin Doris Warger und der pensionierte Malermeister Martin Vock vom Verein Werkhaus Freisitz sitzen mit dem Architekten Ueli Wepfer von der Denkmal Stiftung Thurgau am weiß gedeckten Tisch und besprechen die letzten Details. Sie sind ein eingespieltes Team. Im Werkhaus finden regelmäßig Anlässe statt; vom Fachdialog am Mittagstisch über Weiterbildungstage für Handwerkerinnen und Handwerker bis zum mehrtägigen Workshop für Lernende. Sogar wohnen kann man hier bald temporär. 

Das Bauhandwerk hat Zukunft. Gipserinnen, Zimmerleute, Maler – die gute alte Handarbeit bleibt auch im Zeitalter der künstlichen Intelligenz gefragt. Besonders in der Ostschweiz sei die Branche stark und kompetent, erklären Wepfer, Vock und Warger. Und anders als in anderen Berufsfeldern gehe der Trend in der Baubranche auch nicht weiter Richtung Akademisierung. »Im Gegenteil«, sagt Architekt Wepfer. »Die Akademien kommen eher wieder näher zum Handwerk. An den Fachhochschulen der Region legt man sehr großen Wert auf die handwerkliche Praxis. In St.Gallen etwa nutzen die Lernenden in der ArchitekturWerkstatt im ersten Jahr kaum je einen Computer. Stattdessen lernen sie handwerkliche Techniken und Materialien von Grund auf kennen.«

Auch Interdisziplinarität ist in den Bauberufen ein wachsendes Thema. Dem will das Werkhaus mit der Walz 4.0 Rechnung tragen, einem grenzüberschreitenden Bildungsprogramm in Zusammenarbeit mit der Hochschule HTWG Konstanz. Ziel ist es, Handwerk, Architektur und Ingenieurwesen näher zusammenzubringen. Die Mischung aus traditionellem Handwerk, digitalen Technologien und experimentellen Praktiken soll die jungen Fachleute wappnen für Klimakrise, Energiewende, soziale Verantwortung und andere Herausforderungen, die besonders auch den Bausektor betreffen. 

Angefangen hat die Werkhaus-Walz 2024 mit einem Pilotprojekt quasi am lebenden Objekt: Gemeinsam mit einem Ingenieur haben Handwerkerinnen, Handwerker und Studierende der HTWG eine Riegelwand im Freisitz gesichert. Mittlerweile wird im Rahmen der Walz 4.0 auch ein Atelierstipendium angeboten. Wichtig ist, dass sich die Akademikerinnen dabei mit den Handwerkern zusammentun. Ob sie dann zum Beispiel an der Herstellung eines lokalen Lehmputzes tüfteln oder ihr Projekt eher theoretischer Natur ist, bleibt ihnen überlassen. Das Werkhaus will diesbezüglich keine Grenzen setzen und ist explizit offen für Feldforschung und Innovationen. 

Das Werkhaus soll auch ein Ort zum Experimentieren sein. (Foto: © Ladina Bischof)
In Zukunft sollen, so wünscht man es sich beim Verein, alle angehenden Handwerkerinnen und Handwerker im Kanton Thurgau mindestens einmal mit dem Werkhaus in Kontakt kommen. (Foto: © Ladina Bischof)
Foto: © Ladina Bischof
Den kulturellen Mehrwert pflegen

Man will aber nicht erst bei den höheren Stufen ansetzen, sondern bereits in der handwerklichen Grundbildung. »Die Idee wäre, dass alle Lernenden im Thurgau während ihrer Ausbildung mindestens einmal mit dem Werkhaus in Kontakt kommen«, sagt Malermeister Martin Vock. »Hier können sie hochwertiges und experimentelles Handwerk live erleben.« – »Und den kulturellen Mehrwert der Handwerkskunst«, ergänzt Restauratorin Warger. Dieser werde beim Bauen nämlich oft vergessen vor lauter Zeit- und Spardruck.

Was diesen kulturellen Mehrwert auch ausmacht, sieht man überall im Werkhaus. Unten im Nassatelier, wo mit Sgraffito, Lehm oder Stuck experimentiert wird, nebenan in der ehemaligen Kapelle, wo geschreinert und restauriert wird, oder ganz oben im Dachstock, der unter anderem zur Untersuchung alter Malereien, Schichtenfolgen oder der Statik der Balken dient. Hier soll dereinst eine Wohnung für Ferien im Baudenkmal entstehen, samt Fachbibliothek. 

Wie genau die oberen Geschosse dann aussehen werden, ist offen. »Die Geschichte des Hauses soll ablesbar blieben«, sagt Ueli Wepfer. Aber es gehe nicht darum, alles wieder in den Ursprungszustand zu versetzen. »Gerade bei diesem Gebäude, das so viele Überraschungen birgt, kann man ohnehin nicht alles bis ins letzte Detail planen. Das Konzept wird laufend diskutiert und justiert.« Das passt zu den Handwerkerinnen und Handwerkern im Werkhaus: Auch sie bauen auf dem Historischen auf und leiten daraus Lösungen ab für die Zukunft. 

Im Werkhaus wird unter anderem mit Sgraffito, Lehm und Stuck experimentiert. (Foto: © Ladina Bischof)

Gutes Bauen Ostschweiz möchte die Diskussion um Baukultur anregen. Die Artikelserie behandelt übergreifende Themen aus den Bereichen Raumplanung, Städtebau, Architektur und Landschaftsarchitektur. Sie wurde lanciert und wird betreut durch das Architektur Forum Ostschweiz (AFO). Das AFO versteht alle Formen angewandter Gestaltung unserer Umwelt als wichtige Bestandteile unserer Kultur und möchte diese in einer breiten Öffentlichkeit zur Sprache bringen. 

a-f-o.ch

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