Nadja und Lukas Frei: «Oft haben wir heute mit dem Missverständnis zu kämpfen, ein Bauwerk sei bereits umweltfreundlich, weil es aus Holz gebaut ist»
Elias Baumgarten
8. März 2023
Foto: Nadia Bendinelli
Nadja und Lukas Frei haben mit ihrem Aussichtsturm im Hardwald bei Zürich unsere Leserwahl zum «Bau des Jahres» gewonnen. Wer sind die beiden, wie denken und arbeiten sie?
Nadja, Lukas, herzlichen Glückwunsch zu eurem Erfolg bei unserer Leserwahl zum «Bau des Jahres». Euer Aussichtsturm im Hardwald hat über 24 Prozent der Stimmen erhalten – ein grandioser Sieg. Zustande kam dieses deutliche Ergebnis durch die grosse Unterstützung aus der Bevölkerung. Viele Architekturschaffende wünschen sich sehr, dass ihre Bauten allen gefallen, nicht nur Kolleginnen und Kollegen. Wie habt ihr das geschafft?
Nadja Frei: Die Menschen vor Ort hatten sehr früh Berührungspunkte mit dem Projekt. Das begann schon beim Architekturwettbewerb. Später haben wir bewusst auf lokale oder zumindest regionale Handwerker gesetzt und nur Holz aus dem Hardwald verwendet. Die Ortsverbundenheit wurde zum roten Faden des Projekts. Vielleicht können sich viele Menschen auch deshalb so gut mit dem Turm identifizieren und sehen ihn als ihr Bauwerk.
Lukas Frei: Uns war wichtig, einen Treffpunkt für die fünf Gemeinden Opfikon, Kloten, Wallisellen, Bassersdorf und Dietlikon zu gestalten, nicht bloss einen Aussichtsturm. Wir möchten mit unserer Architektur Menschen zusammenbringen. Hinzu kommt, dass der Hardwald sehr beliebt ist. Viele kommen hierher, um ihre Freizeit zu geniessen. So haben viele Leute die Baustelle immer wieder besucht, und schon während der Bauzeit war das Interesse sehr gross; gesteigert wurde die Aufmerksamkeit noch durch die vielen Berichte in den lokalen Medien.
Zudem ist euch ein sehr ästhetisches Bauwerk gelungen. Die perspektivische Wirkung ist beeindruckend: Wenn man um den Turm herum läuft, entsteht die Illusion, er bewege sich, tanze geradezu.
Nadja Frei: So ein Turm ist an sich etwas Spektakuläres. Wir haben beim Entwerfen rasch gemerkt, dass Perspektiven und die geometrischen Formen aufgrund der Höhe von über 40 Metern eine immense Bedeutung erhalten. Viel mehr als sonst haben wir mit Modellen gearbeitet, um ein vertieftes Verständnis für die Wirkung des Turms zu entwickelt. Aber trotz aller Tests am Modell waren wir am Ende selbst überrascht und berührt, als wir den fertigen Bau sahen und zum ersten Mal hinaufstiegen.
Mit ihrem Aussichtsturm im Hardwald bei Zürich gewannen Nadja und Lukas Frei die Publikumswahl zum «Bau des Jahres». (Foto: Nadia Bendinelli)
Foto: Ladina Bischof
Foto: Nadia Bendinelli
Nun ist ein Aussichtsturm keine alltägliche Bauaufgabe. Was konntet ihr dennoch für andere Projekte lernen?
Nadja Frei: Unser Wissen über den Holzbau ist bei diesem Projekt sehr gewachsen, auch wenn uns klar ist, dass man nicht alles eins zu eins auf komplexere Gebäude wie etwa Wohnhäuser anwenden kann, bei denen sich bauphysikalisch wie betrieblich viel umfangreichere Anforderungen stellen. Oft haben wir heute mit dem Missverständnis zu kämpfen, ein Bauwerk sei bereits umweltfreundlich, weil es aus Holz gebaut ist. Doch das stimmt so nicht. Holz wird teilweise mit viel Aufwand, Leim und Metall verbaut, weil man versucht, es in Konstruktionen einzusetzen, bei denen es nicht unbedingt effizient ist. Beim Turm haben wir fast nur rohes Material verwendet: Abgesehen vom Haupttragwerk wurden die Hölzer weder behandelt noch verleimt. Sie können leicht ausgetauscht werden und, sofern nötig, vor Ort im Wald verrotten.
Lukas Frei: Für uns war der Turm auch ein Test, was die lokale Verarbeitung von Holz anbelangt. Wir haben nur mit Hölzern aus dem Hardwald gearbeitet, Sägerei und Holzbauer befanden sich in einem angrenzenden Dorf. Holzbau wird wesentlich nachhaltiger, wenn man die Transportwege so kurz wie möglich hält. Heute wird Holz leider oft Hunderte Kilometer weit transportiert, bevor man es verbaut. Zumeist können wir als Architekten bei der Zimmerei lediglich festlegen, dass Schweizer Holz verwendet werden soll.
Nadja Frei: Lehrreich war für uns auch die soziale beziehungsweise politische Seite des Projekts. Die Bauherrschaft bestand, wie Lukas schon sagte, aus fünf Gemeinden. Wir mussten also eine grosse Gruppe von Menschen zusammenbringen. Schlussendlich beruht der Erfolg des Projekts sicher auch auf der guten Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure.
Foto: Nadia Bendinelli
Foto: Nadia Bendinelli
Für mich führt der Wohn- und Gewerbebau «Fleur de la Champagne» in Biel, an dem ihr gerade arbeitet, vieles fort, was beim Turm vorgedacht scheint.
Lukas Frei: Es wäre schön, wenn dieses Projekt tatsächlich unsere Haltung auf den Punkt bringt. Uns ist wichtig, eine Architektur zu entwickeln, die den Ort schärft und auszeichnet, die vor allem aber ein Ort der Gemeinschaft ist, für Mensch und Natur. Den Wettbewerb haben wir 2021 gewonnen. Die Anlage besteht aus einem sechsgeschossigen Riegel und einem zweigeschossigen Gebäude der Stiftung Zentrum SIV mit Dachgarten. Die beiden Bauten fassen einen gemeinschaftlichen Hof. Unser Ziel ist, Wohnen und Arbeiten in einer gemeinschaftsfördernden, nachhaltigen und flexiblen Überbauung unterzubringen und Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen ein Zuhause zu bieten.
Nadja Frei: Zu den öffentlichen Nutzungen gehören ein Quartierladen, eine Beiz, eine Mobilitätsstation und Coworking-Spaces. Arbeitsplätze und Wohnungen für Menschen mit Behinderung sorgen für Inklusion und Vielfalt. Die Erschliessung erfolgt über Laubengänge, die wir so gestaltet haben, dass sie zu Begegnungsräumen werden. Es wird verschiedene Wohnungstypen vom Studio bis zur Clusterwohnung geben. Auch bei Bedarf zumietbare Zimmer sind eingeplant. Ausserdem haben wir für die Bewohnerinnen und Bewohner viele Möglichkeiten zum Selbstausbau und zur Anpassung der Wohnungen vorgesehen.
Lukas Frei: Der Holzbau ist zudem vollständig klimaneutral konzipiert. Wir möchten viele wiederverwendete Bauteile und Naturbaustoffe einsetzen. Und wir streben auch eine konsequente Systemtrennung an, was später einmal das Rezyklieren der Baumaterialien erleichtern wird.
Modell des Wohn- und Gewerbebaus «Fleur de la Champagne» in Biel. (Foto: Nadia Bendinelli)
Wohn- und Gewerbebau «Fleur de la Champagne» (Illustration: © kooni.ch)
Wohn- und Gewerbebau «Fleur de la Champagne» (Schnitt: © Luna Productions)
Ihr habt euer Büro in Deitingen bei Solothurn in einer sehr ländlichen Gegend. Hier steht auch das Haus «vis-à-vis», mit dem ihr einen eurer ersten Erfolge gefeiert habt. Wie ist es um die Architekturqualität auf dem Land bestellt?
Nadja Frei: Pauschal ist das schwer zu sagen, unser Eindruck ist aber, dass das Architekturverständnis auf dem Land mitunter ein anderes ist als in der Stadt. Wenn man sich umsieht, was auf dem Land neu gebaut wird, ist das zuweilen schon ernüchternd.
Lukas Frei: Institutionen und öffentliche Stellen konzentrieren sich stark auf die Qualität von Raumplanung und Architektur in den Ballungsräumen. Einer qualitätsvollen Entwicklung in den ländlichen Gebieten wird weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Mir scheint, es fehlen hier noch die politischen Antworten. Hinzu kommt, dass wir auf dem Land nur wenige Expertinnen und Experten zur Verfügung haben. Viele Kommissionen sind mit Laien besetzt.
Und wie kann man die Situation verbessern?
Nadja Frei: Es braucht Offenheit und Engagement. Miteinander zu reden, hilft sehr viel. Wenn es in jeder Gemeinde nur zwei, drei Leute gibt, die sich kümmern, ist schon viel geholfen. Ich versuche das Meine dazu beizutragen, indem ich mich hier in Deitingen in der Planungskommission engagiere. Auch haben wir schon Dorfspaziergänge organisiert wie Ruumfabrigg im Glarnerland, um zum Beispiel die Ortsbildschutzzone zu erklären und zu besprechen, was überhaupt schützenswert ist und warum. Ausserdem würde ich mir wünschen, dass das Bauen im ländlichen Raum an den Universitäten stärker behandelt wird, wie es bereits an manchen Fachhochschulen geschieht. Und am besten wäre wohl, es würden mehr Architekturschaffende in die Politik gehen. Denn es braucht den Einsatz auf übergeordneter Ebene. Einzelne gute Bauten ändern noch nichts an der Gesamtlage.
Lukas Frei: Unsere Dorfspaziergänge wurden gut angenommen. Das Interesse ist da – allerdings vielfach nur, solange es einen nicht selbst betrifft, die eigene Parzelle, das eigene «Gärtli». Leider fehlt der Blick aufs Ganze häufig, und es wird zu oft nur für sich geschaut.
Nadja Frei: Vielen Menschen erschliessen solche Veranstaltungen eine neue Perspektive und einen neuen Blick aufs Dorf und unsere gebaute Umgebung. Sie entwickeln ein besseres Verständnis für baukulturelle Themen wie den Ortsbildschutz, den ich eben angesprochen habe. Immer wieder entstehen lebhafte Diskussionen. Das ist sehr wertvoll.
Foto: Nadia Bendinelli
Das klingt nach viel Aufbauarbeit. Gibt es für Architekturschaffende in ländlichen Regionen auch Vorteile?
Lukas Frei: Meistens kommen wir über Wettbewerbe zu unseren Aufträgen. Dabei ist es nicht entscheidend, ob man sein Büro auf dem Land hat oder in einer Metropole.
Nadja Frei: Wir profitieren wahrscheinlich davon, dass man uns als Büro auf dem Land kennt. Damit können viele etwas anfangen. In Zürich etwa wären wir nur eines unter vielen jungen Büros. Es ist dort wahrscheinlich schwieriger, sich zu profilieren. In der Region Solothurn gibt es nur wenige Jungbüros. So hatten wir schon früh die Möglichkeit, an Studienaufträgen teilzunehmen, obwohl wir noch keine Referenzprojekte hatten.
Lukas Frei: Wobei man auch sagen muss, dass der Standort ebenso gewisse Nachteile hat. Es ist zum Beispiel wesentlich schwieriger, Praktikantinnen und Praktikanten oder Mitarbeitende zu finden. Viele junge Architekturschaffende zieht es nun einmal in die grossen Städte.
Foto: Nadia Bendinelli
Lasst uns etwas springen: Mir gefällt, dass eure Kinder im Büro spielen. Wie vereinbart ihr Erziehung und Arbeit?
Nadja Frei: Wir wohnen oben im Haus, unser Büro befindet sich im Erdgeschoss. Arbeit und Familienleben fliessen ineinander – das wäre vielleicht nicht für jeden etwas, doch uns gefällt es so. Wir haben trotz des intensiven Jobs ein sehr erfülltes Familienleben mit gemeinsamen Mahlzeiten und allem was sonst dazugehört. So können wir für die Kinder da sein, wenn etwas ist, und oft sind sie dann halt auch bei uns im Büro.
Lukas Frei: Dass der eine Partner Nachtschichten im Büro schrubbt, während der andere sich nur um die Kinder und den Haushalt kümmert, gibt es bei uns nicht. Wir arbeiten beide 80 Prozent und teilen uns die Sorge- und Büroarbeit eins zu eins. Das macht es einfacher, alles unter einen Hut zu bringen. Glücklicherweise erhalten wir aber zusätzlich auch Unterstützung aus unserem familiären Umfeld.
Nun ist der Architektenberuf ein extrem zeitintensiver. Inwiefern braucht es das Familienleben für euch als Ausgleich, um eine gesunde Balance zu wahren?
Lukas Frei: Gute Architektur entsteht nicht ohne Leben. Sie braucht Muse. Ich brauche das Spielen mit den Kindern, um nachher im Büro inspiriert an der Arbeit zu sein.
Das führt mich zur Frage nach euren Inspirationsquellen.
Nadja Frei: Für mich spielt die Analyse eine wichtige Rolle. Wenn ich mich mit einer neuen Bauaufgabe beschäftige, vertiefe ich mich sehr in die Bedürfnisse und das Leben der künftigen Nutzerinnen und Nutzer. Das kann sehr inspirierend sein.
Architekturgeschichte und -theorie interessieren euch weniger?
Nadja Frei: Natürlich nehmen wir auch Architekturbücher zur Hand. Eher als Baugeschichte und Architekturtheorie sind es aber Themen aus verwandten Disziplinen, aus Kunst und Kultur, manchmal auch aus der Soziologie, die uns inspirieren. Ein historisches Interesse haben wir eher an traditionellen Handwerkstechniken: Wie wurde Holz früher verarbeitet? Wie wurde es geschlagen, wie ging es in den Sägereien zu und her?
Lukas Frei: Sehr wichtig ist für uns auch der Diskurs untereinander. Weil wir so viel Zeit miteinander verbringen und fast immer zusammen sind, tauschen wir uns fortwährend über Architektur aus. Sobald einem von uns etwas in den Sinn kommt oder im Alltag auffällt, sprechen wir darüber. Das bringt uns voran.
Nadja Frei studierte Architektur an der Berner Fachhochschule in Burgdorf. 2014 gründete sie zusammen mit Lukas Frei das Atelier Luna Productions, nachdem sie vorher verschiedene eigene Projekte realisiert hatte. Von 2011 bis 2018 war sie als Architektin bei Guido Kummer + Partner tätig. Seit 2020 ist Nadja Frei Mitglied der Planungskommission Deitingen und seit 2022 auch des Gestaltungsbeirats zur Entwicklung des Attisholz-Areals in Riedholz.
Lukas Frei studierte an der ETH Zürich und der Berner Fachhochschule Architektur. Während des Studiums absolvierte er verschiedene Praktika in Architekturbüros, aber auch in Handwerksbetrieben.