Aktivierende Streitschrift
Nach seinem großen Erfolg mit »jetzt: die Architektur!« hat Stefan Kurath ein neues Buch geschrieben: »Baukultur mit Bestand«. Leistete er mit Ersterem eine umfassende Kritik an einem unzeitgemäßen Architekturverständnis, will er jetzt mit einer flammenden Rede in Buchform zum Handeln motivieren.
Vor drei Jahren erschien Stefan Kuraths Buch »jetzt: die Architektur!«. Die scharfe, hervorragend geschriebene Kritik war ein großer Erfolg und erntete viel Lob. Der deutsche Architekturhistoriker und -theoretiker Professor Frank R. Werner schrieb, sie sei »eines der intelligentesten und anregendsten Fachbücher der letzten Jahre«. Nun hat Stefan Kurath ein neues Buch geschrieben. Es heißt »Baukultur mit Bestand« und führt die kritischen Gedanken aus »jetzt: die Architektur!« fort. Diesmal fragt der Architekturprofessor, warum Planung so oft nicht wirkt wie gewünscht. Planung meint dabei nicht nur einzelne Architekturprojekte, sondern besonders auch große städtebauliche und landschaftsplanerische Gestaltungen sowie die Maßnahmen von Raumplanerinnen und Raumplanern. Kurath wiederholt einige Schlüsselforderungen und Kritiken aus seinem vorigen Buch. Zum Beispiel fordert er ein weiteres Mal eindringlich, Planerinnen und Planer sollten Allianzen mit Nutzenden, Politikerinnen, Investoren, Beamtinnen, Nachbarn, Aktivistinnen und anderen Projektbeteiligten schmieden, denn nur dann könne ihre Arbeit Früchte tragen. Sie müssten, mahnt er auch in »Baukultur mit Bestand« wieder, ihr Weltbild ändern und sich »aus dem selbstzugeschriebenen Zentrum in die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse, in den Alltag hineinbegeben«. Auch Architekturhistoriker, die Architekten und deren Ideen in den Vordergrund rücken und glorifizieren, Widerstände und Reibungsverluste aber verschweigen, bekommen erneut ihr Fett weg, weil sie ein falsches Berufsbild prägen. Kurzum, Kurath wirbt weiter unverdrossen für ein anderes Architekturverständnis und eine andere Planungskultur. Doch obwohl seine beiden Bücher verwandt sind und inhaltlich ineinandergreifen, unterscheiden sie sich in ihrem Charakter deutlich.
»jetzt: die Architektur!« war ein intellektueller Hochgenuss: In dem dicken Lesebuch entwickelte Kurath seine Kritik an einem Architekturverständnis, das gesellschaftliche Einflüsse vernachlässigt, mit vielen interessanten Bezügen zur Architekturgeschichte und zur Philosophie. Er zitierte, arbeitete sich an den Standpunkten von Architektenkollegen ab und diskutierte historische wie zeitgenössische Beispiele ausführlich. »Baukultur mit Bestand« dagegen ist aus einem Vortrag entstanden. Das dünne knallrote Buch im handlichen Format besteht aus kurzen Kapiteln. Die Sätze sind knapp und prägnant formuliert. Rhetorische Stilmittel prägen die Sprache, und wichtige Aussagen stehen in einzelnen Zeilen isoliert. Bilder und Pläne sucht man ebenso vergeblich wie lange Ausflüge in Geschichte und Philosophie. Aber vorbildliche Praxisbeispiele stützen die Argumentation. Sie sind kurz beschrieben und typografisch durch Einzüge hervorgehoben. Überhaupt setzt die Buchgestaltung von Wessinger und Peng aus Stuttgart das Konzept einer Rede in Buchform großartig um. »Baukultur mit Bestand« möchte aufrütteln und ins Handeln bringen. Das theoretisch-intellektuelle Fundament hat Kurath dafür bereits mit »jetzt: die Architektur!« gelegt.
Das heißt keineswegs, dass sich die Lektüre nach »jetzt: die Architektur!« nicht mehr lohnt. Im Gegenteil: Kurath hält zwölf Erkenntnisse fest, wie die »Planungskrise« überwunden und der Wirkungsgrad der Planung verbessert werden kann. Viele der einleuchtenden Gedanken eröffnen eine neue Sichtweise und könnten Architektenkollegen inspirieren. Zum Beispiel der Hinweis, dass die eigentliche »Knochenarbeit« erst nach der Ausarbeitung der Pläne beginnt: Jetzt ist das Projekt nicht etwa abgeschlossen, sondern die Umsetzung muss intensiv betreut werden, denn »wer sich hier zurückzieht, zurücklehnt, in Sicherheit wiegt, verliert«. Kurath schreibt: »Die Verbindungen der Planungen zur Gesellschaft und zum Bauen müssen auch im Alltag aufrechterhalten werden. Jetzt braucht es umso mehr Informationsveranstaltungen. Dialogveranstaltungen müssen auch nach Inkrafttreten der Planung weitergeführt werden.« Außerdem sollten vermeintlich fertige Pläne gerade im Städtebau und in der Raumplanung unbedingt fortlaufend angepasst werden, weil sich Rahmenbedingungen und Interessen unvorhersehbar ändern. Geschieht das nicht, entwickeln Menschen Strategien, Pläne beispielsweise durch Ausnahmegenehmigungen zu umgehen – selbst, wenn sie diese einst mitgetragen oder sogar mitgestaltet haben. »Es gibt keinen finalen Plan«, hält Kurath fest. »Es gibt kein finales Gebäude, keinen finalen Frei-, Dorf-, Stadtraum, keine finale Kulturlandschaft. Es gibt keine finale gebaute Welt.«
Besonders interessant sind auch seine Gedanken zum Weiterbauen. Der Bestand ist für ihn nicht nur ein Speicher wertvoller grauer Energie, sondern ein Garant für Architekturqualität. Denn über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte bewährte und weitergebaute Strukturen geben Menschen Orientierung und Identität, in ihnen stecken Erinnerungswerte und soziale Bindungen. Auch Pflanzen und Tiere haben sich an sie angepasst. Kurath schreibt: »Wer abbricht, Rückbau und Tabula rasa betreibt, zerstört biografische Bindungen, rüttelt an der Identität der Menschen vor Ort. Das fördert Angst vor Entwurzelung, schafft Unsicherheit und damit Widerstand.« Abriss und Neubau sind also nicht nur schlecht für Umwelt und Klima, sie führen auch in die Planungskrise. Planerinnen und Planern rät Kurath, öfter »auch davon zu sprechen, was alles bleiben soll« – so wie Herzog & de Meuron, die den Wettbewerb für das Kunstmuseum Tate Modern in London gewonnen haben, weil sie den Bestand bewahrten und architektonisch inszenierten.
Darüber hinaus stecken in »Baukultur mit Bestand« viele kontroverse Sichtweisen, die man lange weiter diskutieren könnte – etwa zur richtigen Gestaltung von Beteiligungsprozessen, zum kreislauffähigen Bauen, zur Forderung nach Abrissmoratorien oder zum Holzbau.
Mich lässt das Buch auch über unsere Gesellschaft nachdenken: Kuraths Vorschläge zu leben, erfordert Frustrationstoleranz, Durchhaltewille, Geduld und großes Kommunikationstalent. Wer sich bei Widerstand oder Kritik schnell beleidigt zurückzieht oder nicht kommunizieren kann, wenn es einmal schwierig wird, kommt in der Planung nicht weit. Kuraths Positivbeispiele wie die Therme Vals, die Chäserrugg-Bergstation oder die Ortsentwicklung von Monte Carasso wären nie gelungen, hätten Peter Zumthor, Herzog & de Meuron und Luigi Snozzi diese Charaktereigenschaften und Fähigkeiten nicht besessen. Hoffentlich bringen sie viele Menschen mit, auch wenn es im Alltag zurzeit oft anders scheint. Und noch etwas: Momentan ist es leicht, dem Irrglaube zu unterliegen, künstliche Intelligenz könne anstrengende Denkarbeit abnehmen und ein Ersatz für fehlendes Wissen sein. Zumindest in der Planung stimmt das nicht. Dort gibt es keine Abkürzung. Künstliche Intelligenz ist Wahrscheinlichkeitsrechnung. Doch wie Stefan Kurath treffend schreibt: »Zukunft lässt sich nicht aus Formeln ableiten. Zukunft lässt sich nicht berechnen, nicht aus Daten der Vergangenheit generieren. Zukunft muss entwickelt, entworfen, verworfen, konstruiert, korrigiert, versammelt werden – ohne dabei die Übersicht zu verlieren.«