Casa di ringhiera – Interpretation des Verandatyps

Oxid Architektur (vormals burkhalter sumi architekten)
24. Februar 2022
Foto: René Dürr
Herr Schihin, wie hat der Ort auf den Entwurf eingewirkt?


Als urbane Nachverdichtung im urban sprawl zwischen Bellinzona und Giubiasco bilden die drei Ersatzneubauten eine neue Nachbarschaft und nehmen doch Bezug zum heterogenen Kontext; während die 5-geschossige torretta zusammen mit der bestehenden Wohnanlage aus den 1960er-Jahren den Bezug zur Kantonsstrasse sucht, bezieht sich die 3-geschossige casa di ringhiera auf den Kontext der suburbanen Reihenhäuser. Zwischen den beiden Bauten spannt sich ein Binnenraum auf, welcher die Durchwegung sichert, mit dem hölzernen Pavillon eine gemeinsame Adresse bildet und zusammen mit dem Kinderspielplatz, den Abstellplätzen für Velos, einem Sitzplatz, dem zumietbaren Gemeinschaftsraum und den Gemüsegärten einen eigentlichen Quartierplatz anbietet.

 

Foto: René Dürr
Foto: René Dürr
Welche Inspiration liegt diesem Projekt zugrunde?


Wie ich eben erklärt habe, ist der Kontext heterogenen. In diesem haben wir bei der casa di ringhiera versucht, mit der Hofbildung, den umlaufenden Veranden und der Holzbauweise eine starke gemeinschaftliche Identität und eine auf sich bezogene Nachbarschaft zu schaffen. Die Bewohner sollen sich mit dem Ort identifizieren und sich den privaten, aber auch den gemeinschaftlichen Raum aneignen.

Kulturell haben wir uns bei der casa di ringhiera am Archetyps der casa a ballatoio inspiriert und diesen neu interpretiert. Diese in der Lombardei, im Piemont, aber auch in den Tessiner Dörfern weitverbreitete urbane kollektive Wohnform schafft durch die meist um einen Hof laufende Laubengangerschliessung eine hohe soziale Dichte und eine ausgeprägte Nachbarschaft. Diese Italianità, welche wir aus Luchino Visconti’s Filmen (zum Beispiel «Rocco und seine Brüder») kennen, haben wir durch die Uminterpretation des Laubengangs in eine übertiefe gemeinschaftliche Veranda mit der nötigen Privatsphäre aufgeladen. Die Laubengänge und die den Wohnungen vorgelagerten halbprivaten Balkone vermischen sich zu sozialen Schwellenräumen.

Die durchgesteckten Wohnräume vermitteln mit den raumhohen Verglasungen zwischen der gemeinschaftlichen Veranda zum Hof und dem privaten Aussenraum zur Aussenseite, wo auch alle Zimmer angeordnet sind. Durch Schränke zwischen den Eingängen entsteht vor dem Essraum zum Hof jeweils eine kleine Nische, ein halbprivater Schwellenraum, der durch die Mieter möbliert und privatisiert werden kann und den Bezug der Wohnungen zum gemeinschaftlichen Hofraum verstärkt. 

 

Foto: René Dürr
Foto: René Dürr
Wie gliedert sich das Gebäude in die Reihe der bestehenden Bauten des Büros ein?


Uns interessiert der gesellschaftlich spannende Filter- und Schwellenraum zwischen privater Wohnung und vorgelagertem gemeinschaftlichen Raum. Wir führen hierzu seit mehreren Jahren eine eigentliche recherche patiente über das Laubengang-Erschliessungssystem durch. Dieses interpretieren wir in verschiedenen Projekten neu, sodass aus dem anonymen, aussenliegenden Erschliessungsgang ein Ort des nachbarschaftlichen Austausches und der zufälligen Begegnung wird. 

In Bellinzona bilden zwei 3-geschossige Zeilen mit ihren hofseitigen Veranden und den quergestellten Vertikalerschliessungen einen zentralen Hof als eigentlichen sozialen Inkubator und Begegnungsort. 

Beim soeben fertiggestellten Wohn- und Gewerbehaus am Saurerplatz in Arbon bildet die umlaufende, überbreite Verandaerschliessung auf dem Dach des Gewerbesockels ebenfalls einen identitätsstiftenden, gemeinschaftlichen Hof mit überraschend üppiger, waldartiger Begrünung und zwei witterungsgeschützten Terrassen. Die Küchen und Essräume der meist kleineren Wohnungen sind mittels raumhoher Verglasungen direkt an die Veranda angeschlossen und treten in unmittelbaren Bezug zum gemeinschaftlichen Hof. Die Veranda wird auch hier zur halbprivaten Raumerweiterung. Die Dimensionen des 3-geschossigen Hofes sind fast identisch mit jenem in Bellinzona. 

Bei der in Kürze fertiggestellten Wohnüberbauung Waldacker in St. Gallen spannen zwei mehrfach geknickte Zeilen einen grünen Binnenraum für die Gemeinschaft mit Sicht auf den Tröckneturm auf. Zu diesem vorgelagerte Veranden sichern einerseits die Erschliessung der Wohnungen und bilden andererseits den durchgesteckten Wohnräumen vorgelagerte individuelle Aussenräume mit Bezug zum gemeinschaftlichen Binnenraum. Dank vorstehenden Eingängen entstehen in den Nischen private Sitzplätze, deren Privatsphäre bei Bedarf durch Vorhänge zusätzlich geschützt werden kann. 

 

Foto: René Dürr
Beeinflussten aktuelle energetische, konstruktive oder gestalterische Tendenzen das Projekt?


Das Thema der Klimarelevanz beschäftigt uns aktuell in jedem Projekt. Wann immer möglich und sinnvoll, arbeiten wir mit dem Bestand und/oder in Holz. In Bellinzona liessen die bestehenden Häuser eine sinnvolle Ertüchtigung leider nicht zu. Die energetisch wichtigen Unterterrainbauten haben wir hingegen in den Entwurf integriert, zu einer Tiefgarage zusammengebunden und so einen Teil der gebundenen grauen Energie genutzt. Das oberirdische Bauvolumen, die casa di ringhiera, ist ökologisch nachhaltig in vorfabrizierter Holzbauweise erstellt. Holz kann hier seine klimarelevanten Vorteile voll ausspielen. Das bei diesem Projekt verbaute Holz wächst in Schweizer Wäldern in nur sieben Minuten nach und speichert circa 1000 Tonnen CO2 im Gebäude (Sequestrierung). Dank der geringen grauen Energie sind die CO2-Emissionen um ein Drittel geringer als bei einem konventionellen Neubau. Dank des niedrigen Gewichts konnten die Fundationen kleiner ausgelegt werden. So sparten wir im Untergeschoss Beton. Holz lässt sich zudem weitaus besser rückbauen, wiederverwendbar oder downcyceln als andere Baustoffe.

 

Foto: René Dürr
Welches Produkt oder Material hat zum Erfolg des vollendeten Bauwerks beigetragen?


Neben dem Umgang mit dem Bestand interessiert uns seit geraumer Zeit das Bauen und Denken in Holz. Marianne Burkhalter und Christian Sumi haben mit ihren ersten Bauten in den 1980er-Jahren Pionierarbeit für die Renaissance der modernen Holzbauweise in der Schweiz geleistet. Wir haben seither – ebenfalls in einer recherche patiente – in angewandten Forschungen und gebauten Beispielen gezeigt, dass das Bauen mit Holz auch im grossen Massstab, also in urbanen Gebieten bei höheren Häusern, sinnvoll eingesetzt werden kann (Modul 17, Pile up Giesshübel, Waldacker, Wannenholz). Uns interessiert dabei neben den beschriebenen nachhaltigen Eigenschaften das konstruktive Verständnis der Holzbauweise, das nötige systemische Denken. Oder wie es Paul Artaria (1892–1959) einst gesagt hat: Steinhäuser können gezeichnet, Holzhäuser müssen konstruiert werden. 

In Bellinzona hat die Holzbauweise massgeblich zum Erfolg des Projekts beigetragen. Dank der systemischen Bauweise und der dadurch entstandenen Skaleneffekte kosteten die Gebäude nicht mehr als konventionelle Bauten. Dank der Vorfabrikation, der Elementbauweise und des Trockenbaus konnte die casa di ringhiera allerdings ein halbes Jahr früher bezogen werden. Last, but not least erzeugt Holz im Gegensatz zu Beton oder Stahl eine warme Stimmung, eine wohnliche Behaglichkeit und Cosiness, welche die Vermietbarkeit der Wohnüberbauung ebenfalls positiv beeinflusst hat. 

 

Situation
Grundriss Erdgeschoss
Längsschnitt
Querschnitt
Holzbaudetails
Bauwerk
MFH Ghiringhelli
 
Standort
Via Ghiringhelli 57a, b, e, 6500 Bellinzona
 
Nutzung
3 Mehrfamilienhäuser
 
Auftragsart
Wettbewerb, 1. Preis
 
Bauherrschaft
Helsana Versicherungen AG, Dübendorf
 
Architektur
Oxid Architektur (bis 2020 burkhalter sumi architekten), Zürich
 
Fachplaner
Renggli AG, Sursee
 
Jahr der Fertigstellung
2020
 
Gesamtkosten BKP 1–9
CHF 17,4 Mio.
 
Gebäudekosten BKP 2
CHF 16,1 Mio.  
 
Gebäudevolumen 
20122 m3 (gemäss SIA 416)
 
Kubikmeterpreis
802 CHF/m3
 
Energiestandard
MukEn 2018
 
Auszeichnung
Prix Lignum: Anerkennung Region Zentrum
 
Fotos
René Dürr, Zürich

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