Wieder aus der Schublade geholt
Katinka Corts
5. de desembre 2023
Ein Regal, zur Hälfte bereits gefüllt mit Vergangenem. Daneben ist Platz für Neues, das daraus entsteht im Rahmen der Museumspädagogik. (Foto: © Tom Bisig)
Im Schweizerischen Architekturmuseum sind aktuell Varianten unserer Realität zu sehen. In der Ausstellung «Was Wäre Wenn» geben die Kuratoren jenen Beiträgen aus Architekturwettbewerben eine Bühne, die nie realisiert wurden. Ein Blick in die Vergangenheit – kurz traurig, dann aber positiv konnotiert.
Dieser Beitrag wurde von german-architects.com übernommen.
Viel Optimismus und Herzblut brauchen Planer*innen, wenn sie an Wettbewerben teilnehmen. Ob Architektur, Ingenieurwesen, Landschaftsarchitektur oder weitere Fachdisziplinen – die Teilnahme ist ein Versprechen an sich selbst, mit dem eigenen Vorschlag den ersten Preis gewinnen zu können. Anders geht es auch nicht, könnte man sonst nicht unzählige Stunden investieren, mit Kolleg*innen diskutieren, Modelle entwickeln und Zeichnungen fertigen, die in naher Zukunft ihren grossen Einsatz haben: Bei der Jurierung. Andreas Ruby nannte das im Rahmen der Ausstellungseröffnung von «Was wäre wenn» das «Damoklesschwert der Bewertungsinstanz» und bezeichnete ihn als jenen tragischen Moment, «an dem man als Architekt Abschied nehmen muss von einer Vision, die man selbst als die beste aller Welten» gesehen hat und noch sieht.
Le Corbusiers Pläne für den Völkerbundpalast in Genf an der Wand, im Hintergrund die ausgestellten Modelle vergangener Projekte (Foto: © Tom Bisig)
Eine Ausstellung zeigt die alternative SchweizDem Zustand des «Verlorenhabens» widmet sich die Ausstellung im Schweizerischen Architektur Museum S AM. Doch es ist keine per se traurige Schau. Im Vorfeld lud Kurator Andreas Kofler alle Schweizer Architektur- und Planungsbüros dazu ein, eingelagerte Modelle ihrer verlorenen Wettbewerbe der Ausstellung zu überlassen. Im Museum stehen sie in einem langen und hohen Regal, gereiht auf einer Seite. Zwar stellen sie für den jeweiligen Wettbewerb den Abschluss und das Danach dar, im Museum bekommen sie jedoch ein neues Leben: Die Museumspädagog*innen des Hauses werden sich gemeinsam mit Kindern in den kommenden Wochen mit dem Um- und Weiterbauen beschäftigen, die Elemente sowie Materialien der Modelle verändern, weiterentwickeln und zu etwas Neuem zusammenstellen. Die Produkte dieser Arbeit, dieses zirkulären Modellbaus, werden sich über die Zeit auf der anderen Seite des Regals sammeln und dort als etwas Neues ausgestellt. Stirnseitig im Raum läuft, gleich einer Mahnung an das Prozesshafte eines Wettbewerbs, in einer Schleife der Dokumentarfilm «The Competiton» von Angel Borrego Cubero.
Ausstellung der Beiträge Westast, Nagelhaus und der Valser Turm (Foto: © Tom Bisig)
Der vielfältige Tod von ProjektenViele Gründe können dazu führen, dass Wettbewerbsbeiträge nicht realisiert werden. Kofler und Ruby sortieren die gezeigten Vorhaben im zweiten Teil der Ausstellung in vier Kategorien: «Verloren» ist das klassische Verlieren des Wettbewerbs, «Verneint» steht für die schweizerische Besonderheit der Volksabstimmung, «Versackt» sind jene Projekte, die aus verschiedenen Nöten schlussendlich nie realisiert werden und in Schubladen landen und «Verändert» sammelt die Vorhaben, die so sehr umgeplant wurden nach dem Wettbewerb, dass sie sich selbst nicht mehr ähneln. Für diese Sammlung und Einordnung haben Kofler und Ruby den Kontakt zu verschiedenen Schweizer Institutionen aufgenommen und sie nach unrealisierten Bauten in ihrer Region gefragt, die immer wieder thematisiert werden und die Gemüter erhitzen. Ungebaut heisst eben nicht zugleich «aus den Köpfen», vielmehr zeigen die Varianten, wie unsere Städte auch aussehen könnten.
Materialsammlung zu Jørn Utzons Vorschlag für das Neue Schauspielhaus Zürich. (Foto: © Tom Bisig)
Bitte anfassen: Zeitreise und ArchivschauGrosse Tische voller Zeichnungen und Utensilien sowie zahlreiche an den Wänden aufgehängte Pläne lassen neben dem Raum mit dem Regal voller Modellen die Atmosphäre eines klassischen Architekturbüros aufkommen. Jeder der Tische ist einem spezifischen verlorenen Wettbewerb aus der Schweizer Geschichte des 20. und teilweise 21. Jahrhunderts gewidmet. Chronologisch sortiert hat man zunächst Le Corbusiers Pläne für den Völkerbundpalast in Genf (1927–1929) vor sich, bald auch das neue Schauspielhaus von Jørn Utzon (1963–1973), die Zürcher Waldstadt von Werner Stücheli (1971) und die Bundeshauserweiterung von Mario Botta (1991–1993). Zu den jüngsten Projekten gehören die Wasserstadt Solothurn von Herzog & de Meuron (2006–2022), das Projekt Westast (eine Autobahnumfahrung in Biel, 2014–2020) und der Valser Turm von Morphosis (2014–2017). Auf jedem Tisch finden die Besucher*innen Unterlagen, die das Werden und Vergehen der einzelnen Projekte dokumentieren, darunter Planunterlagen, Abstimmungsplakate, Zeitungsberichte und andere Publikationen. Die Ausstellungsmacher laden ein zum Anfassen und Erforschen, wollen die Besucher zum Teil des Projektes machen und sie nachvollziehen lassen, wieso jene Projekte gescheitert sind.
Soziale Utopie bolo'bolo von Hans Widmer / P.M. (Foto: © Tom Bisig)
Andreas Ruby: «Hommage an die Opferwilligkeit von Architekt*innen»Das Scheitern ist aber auch positiv konnotiert, und so sprechen die Kuratoren über die ungebauten Projekte auch als «Humus des Gebauten». In ihm würden starke Ideen stecken, die andere Entwerfer*innen wiederum inspirieren können. Zugleich ist der volkswirtschaftliche Aspekt interessant, denn die Ausstellung lässt spüren, wie viel sich das Land die Verfahren kosten lässt und wie viel unbezahlte, selbstausbeutende Arbeit damit einhergeht. So sei die Ausstellung, so Ruby, auch eine «Hommage an die Opferwilligkeit von Architekt*innen, sich bei jedem Wettbewerb immer wieder aufs Neue zu motivieren und all ihr Herzblut, all ihren Optimismus, all ihre Hoffnung in die Waagschale zu werfen, sich in einen Zustand der kollektiven Euphorie zu versetzten, mit nur dem es möglich ist, diese Energie über Wochen freizusetzen.»
Filmstill: © Angel Borrego Cubero
Lohnt sich die Wettbewerbsteilnahme heute noch?Doch wie weit ist es noch her mit eben jener Opferwilligkeit? Eine Woche nach der Ausstellungseröffnung in Basel fand in Zürich ein Wettbewerbslabor zum Stand der Dinge im Wettbewerbswesen statt. Dort zeigte sich: Der Aufwand, mit dem Wettbewerbsteilnahmen heute einhergehen, ist extrem gross geworden und frustriert Bauschaffende. Architekt Reto Gmür rechnete den Preis des Wettbewerbs anhand eigener Auswertungen vor: ein zweistufiger Wettbewerb mit 20 und später vier teilnehmenden Büros schlägt mit über einer halben Million Franken Aufwand zu Buche, dem gegenüber stehe bei Sieg ein Preisgeld von etwas mehr als einem Drittel davon. Bei dem Beispiel des einstufigen Studienauftrags mit fünf Teilnehmenden stehen Aufwand und Vergütung im Verhältnis 7:1, beim einstufigen Planerwahlverfahren mit acht Teilnehmenden gar bei 8:1. Die Beispiele zeigen ein klares Ungleichgewicht – besonders, wenn man an alle nicht prämierten Beiträge denkt. Ist der Aufwand zu schwer abschätzbar oder zu hoch, nehmen weniger Büros selbst an offenen Wettbewerben teil. Aktuell sind die Zahlen stark rückläufig, bei einigen offen ausgeschriebenen Wettbewerben nehmen gerade mal noch eine Handvoll Büros teil.
Filmstill: © Angel Borrego Cubero
Neue Wege für zeitgemässe WettbewerbskulturBereits vor dem Wettbewerbslabor hatten sich drei Planungsgruppen mit möglichen neuen Wegen befasst, wie das baukulturell wertvolle Wettbewerbswesen gerettet, zugleich aber die teilnehmenden Büros nicht mehr so belastet würden. Als Optionen zeigten sich zum einen die Vereinfachung des Wettbewerbs, zum zweiten dessen stärkere Digitalisierung und zum dritten die Neuaufstellung von Wettbewerbsaufgaben anhand von CO2-Zielen. Haupttenor bei der Vereinfachung war der Wunsch, dass Auslobende und Jury das Programm straffer zurren und ihre Haltung und Wünsche klarer definieren, anstatt Unmengen an Material und Studienunterlagen begleitend abzugeben und die Durcharbeitung jedem einzelnen Büro abzuverlangen. Auch bei Wettbewerben, die digital begleitet werden, müsste sich die auslobende Seite mehr einbringen als bisher. Die dritte Arbeitsgruppe schlug vor, Wettbewerbe künftig anders ganz anzugehen, nämlich nebst der Bauaufgabe den Fokus auf die Anzahl der künftigen Bewohnenden eines Hauses zum Beispiel zu legen und dazu die Menge an CO2, die im Rahmen des geplanten Gebäudes dafür aufgewendet werden dürfe. Erste Versuche, solch einen Wettbewerb durchzuführen, sollen bereits laufen.
«Ein zweiter Preis ist nicht ‹knapp vorbei›, sondern ein tragischer Verlust», sagte mir vor Jahren eine befreundete Architektin. Pro Jahr werden in Deutschland, der Schweiz und in Österreich mehrere hundert Wettbewerbe und Studienaufträge ausgelobt, die Gewichtung variiert je nach Land. Damit dabei nicht der Frust Oberhand gewinnt und die Lust bleibt, brauchen Teilnehmende faire Bedingungen und Entlöhnungen für ihre Leistungen. Denn, so schön die Rückschau auf das frühere Wettbewerbswesen im Rahmen der Ausstellung sein mag und so wertschätzend der Blick in die Vergangenheit ist, wirklich hilfreich für das heutige Planungsgeschehen ist es, die Verfahren zeitgemässer zu gestalten und damit der Kultur des Wettbewerbs neue Möglichkeiten zu eröffnen.
Die Ausstellung «Was wäre wenn / What if» im Schweizerischen Architekturmuseum S AM ist bis zum 7. April 2024 zu sehen. Das umfangreiche Rahmenprogramm mit Vorträgen und Rundgängen sowie Workshops für Schulklassen verschiedener Stufen ist auf der Website des Museums erläutert.
Was wäre wenn/What if
S AM Schweizerisches Architekturmuseum Andreas Kofler, Andreas Ruby (Hg.)
220 x 280 Millimeter
344 Pàgines
250 Illustrations
Schweizer Broschur mit offener Fadenheftung
ISBN 978-3-85616-997-8
Christoph Merian Verlag
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