Miteinander zu reden, bringt uns voran. Auch wenn die Positionen weit auseinanderliegen
Ulf Meyer
28. de febrer 2022
Hans Leuzinger und Robert Maillart, Cementhalle an der Schweizerischen Landesausstellung, Zürich, 1939. Bauarbeiter tragen Spritzbeton auf Bewehrungsgitter auf. (Foto: anonyme Fotografie, November 1938 © gta Archiv / ETH Zürich, Hans Leuzinger)
Die Fachhochschule Nordwestschweiz und das Schweizerische Architekturmuseum holen den weltgrössten Zementproduzenten Holcim und Betonkritiker*innen an einen Tisch.
Die Schweiz gilt (neben Japan) als «Beton-Land». Besonders der feine Sichtbeton prägt öffentliche und private Gebäude landauf und landab. Doch nicht nur aus ästhetischen Gründen spielt Beton hierzulande eine grosse Rolle, sondern vor allem auch aufgrund der besonderen topografischen Bedingungen. Der Baustoff ist eng mit der Geschichte der Schweiz verbunden. Ohne ihn wäre ihre Landschaft nicht im heutigen Umfang zu besiedeln und zu kultivieren gewesen. Nun aber gerät das vielfältige Material in Verruf: Die mangelnde Wiederverwendbarkeit und der hohe CO2-Ausstoss bei der Produktion von Zement lassen es als (klima)politisch nicht mehr tragbar erscheinen. Beton jedoch flächendeckend zu ersetzen, ist einstweilen unmöglich.
Im Rahmen ihrer «Constructive Futures» genannten Podiumsdiskussion beleuchteten die Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) und das Schweizerische Architekturmuseum (S AM) in Basel das Thema kontrovers. Die Veranstaltung gehörte zum Rahmenprogramm der sehenswerten Schau «Beton» im S AM, die derzeit läuft. Nach Muttenz eingeladen waren Simon Wiedemann von Holcim und Andrea Klinge vom Berliner Büro ZRS Architekten. Wiedemann hatte als Repräsentant des weltgrössten Zementkonzerns keinen leichten Stand. Dennoch stellte er tapfer die neuesten Entwicklungen im Bereich Betonbau-Technologien vor. So etwa die Funicular Floors (Rippendecken) und Carbon Prestressed Concrete (DPC), der ohne Stahl auskommt und für Fussgängerbrücken und Balkone bereits eingesetzt wird, noch nicht aber in den Tragwerken von Hochbauten. Wiedemann betonte, dass bei diesen neuen Produkten ein möglichst kleiner CO2-Fussabdruck erreicht werden soll.
Beratungsgruppe Gestaltung Alptransit, Mehrzweckanlage, Faido, Konzeptskizze von Flora Ruchat-Roncati, Bleistift auf Transparentpapier, auf xerografische Fotokopie montiert (© Archivio del Moderno, Fondo Flora Ruchat-Roncati)
Bei der Einheit HiLo (High Performance – Low Emissions) am NEST der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (EMPA) in Dübendorf wurde das Rippmann-Deckensystem bereits auf seine Tauglichkeit in der Architektur getestet. Die Geschossdecken wurden in dem Gebäude in 3D-Drucktechnik hergestellt und sparen überall dort Material und Gewicht ein, wo es statisch redundant ist. Eigentlich ist der sparsame Materialeinsatz überhaupt keine neue Idee, doch weil Arbeit in Mitteleuropa teuer ist, das Material aber (zu) günstig, werden Bauteile aus Beton oft plump überdimensioniert. Die Digitalisierung könnte hier einen Wandel bringen. Auch der Verwendung von Ultra-High Performance Concrete (UHPC) – speziell bei der Sanierung von Brücken – spricht Wiedemann Potenzial zu, wenn es darum geht, den Zementkonsum zu reduzieren.
En détail interessierten diese neuen Ansätze Wiedemanns Gastgeber aber scheinbar weniger, lieber verglichen sie die ökologische Performance verschiedener Baustoffe, wobei Holz- und Lehmbau zunächst nur gewinnen können. Andrea Klinge, die an der FHNW eine Professur für zirkuläres Bauen angenommen hat, ist das neue Aushängeschild der Schule in Sachen umweltfreundliches Bauen. Ihre Referenz war die «Torfremise», der Wiederaufbau eines Holzstadels als Niedrigenergiehaus nach einem Entwurf von Roswag Architekten in der Nähe von Rosenheim in Bayern (2016). Das Büro heisst heute Ziegert Roswag Seiler und hat mit der Konrad-Zuse-Schule in Berlin auch ein interessantes, neueres und grösseres Projekt entworfen: Das Werkstattgebäude in Holzbauweise hat eine Fassade aus karbonisierten Fichtenholz-Lamellen. Im Inneren sind die Holzoberflächen hingegen hell. Der Skelettbau in Holzrahmenbauweise hat massive Holzstützen, Holzunterzügen, Massivholzdecken und Innenwänden aus Brettsperrholz. Bodenplatte und Streifenfundamente bestehen jedoch aus Stahlbeton.
Um für die Verwendung von Stampflehm als städtisches Baumaterial zu werben, griff Klinge auf die vor mehr als zwanzig Jahren eingeweihte Kapelle der Versöhnung in Berlin zurück. Die Sanierung des Al-Jahili-Forts in Al-Ain in den Vereinigten Arabischen Emiraten von 2008 diente ihr als Beispiel für das Bauen mit Lehmziegeln. Eine überzeugende Antwort auf die Frage nach der Übertragbarkeit auf grössere Bauaufgaben in Mitteleuropa blieb die Professorin allerdings schuldig. Für Klinge steht fest, dass «Beton keine Lösung ist», denn auch der sparsamere Einsatz und die umweltfreundlichere Herstellung ändern an den Grundübeln des Baustoffs ihrer Meinung nach nichts. Sie regte an, ganz auf Umnutzungen zu setzen und Beton zu vermeiden. Wiedemann schlug sie vor, dass sein Holcim-Konzern ganz aus der Beton- und Zementproduktion aussteigen solle. Man solle ihn doch in «Holz-im» umtaufen.
Jean Tschumi, Hauptsitz Mutuelle Vaudoise Accidents, Lausanne, 1953–1956. Die Aufnahme zeigt den Einbau eines vorfabrizierten, armierten Betonpaneels in einen Rahmen an der Westfassade. (Foto: anonyme Fotografie, April 1955 © Archives de la construction moderne – EPFL, Fonds Jean Tschumi)
Dass Holz eine Alternative für alle Bauvorhaben sein kann, bezweifeln Experten jedoch. Weder ist es überall auf der Welt ausreichend vorhanden, noch lässt es sich für alle Aufgaben einsetzen. Auch ist Holz leider nicht per se umweltfreundlich, wenn es mittels verschiedener Chemikalien zu Hochleistungswerkstoffen verwandelt wird, wie uns Holzbau-Unternehmerin Katharina Lehmann unlängst bestätigte. Es braucht überdies, wie neben Lehmann auch der ausgewiesene Experte Hermann Kaufmann weiss, einfachere Aufbauten im Holzbau, die die Demontage und Wiederverwertung erleichtern. Zudem stehen die Schweizer Forstwirtschaft und die hiesige Holzbaubranche durch den Klimawandel, der unsere Wälder und deren Aufbau verändert, vor enormen Herausforderungen. «Wir brauchen eine neue Forstwirtschaft», lautete Klinges lapidares Resümee. Das ist eine Teilwahrheit. Wir brauchen noch sehr viel Forschungs- und Entwicklungsarbeit, um das Potenzial des Holzbaus voll auszunutzen.
Andreas Ruby, der den Abend moderierte, wagte einen Vergleich zwischen Bauwirtschaft und Ernährung: Er habe sich mühsam das Kaffeetrinken abtrainiert, aber auf Fleisch möge er noch nicht verzichten: Es sei einfach zu lecker. Ruby bezeichnete Zement als «Droge», die in den Entwicklungsländern «von Kolonialisten systematisch als modernes Baumaterial implantiert» worden sei, und forderte einen De-Kolonalisierungs-Diskurs bei der Firma Holcim. Das Cap-and-Trade-Programm für den Handel mit Emissionsrechten sieht er lediglich als Ablasshandel.
Die Positionen schienen in der Debatte – durchaus erwartungsgemäss – weit auseinanderzuliegen. Doch bei dem Wandel, der in der Bauindustrie nun stattfinden muss, sind Maximalforderungen nicht zielführend. Es braucht einen konstruktiven, lösungsorientierten Diskurs, an dem sich alle beteiligen. Simon Wiedemann und Andrea Klinge an einen Tisch zu holen, war ein guter Anfang.