Diese Kunst kann man berühren
Susanna Koeberle
18. de juny 2019
Der schlaue Fuchs: Ist das ein Selbstportrait? «Untitled», 2013, Öl auf Leinwand (Foto: Christopher Burke Studio © Rudolf Stingel)
Die Fondation Beyeler zeigt in der Schweiz erstmals nach der Ausstellung in der Kunsthalle Zürich im Jahr 1994 eine Einzelschau zum Werk des Südtiroler Künstlers Rudolf Stingel (*1956 in Meran). Dabei wird deutlich, wie meisterhaft dieser mit den von Renzo Piano entworfenen Räumen umgeht.
Kunst, die man berühren oder in der man sogar seine Signatur hinterlassen kann – das ist für viele Besucher*innen der Fondation Beyeler zunächst ungewöhnlich. Aber das Publikum lässt sich dennoch darauf ein, wie die Spuren auf dem wandfüllenden Teppich oder den silbernen Dämmplatten schon kurz nach der Eröffnung zeigen. Aber ist das Kunst?, wird sich da manch einer oder eine fragen. Das ist es definitiv, denn Rudolf Stingels Kunst lädt dazu ein, über Kunst nachzudenken. Die Teilhabe des Publikums an seinen Werken ist nur eine der Strategien, deren sich der gewiefte Künstler bedient (ist der Fuchs in der Ausstellung gar ein Selbstportrait?). Denn auch wenn wir hier Spuren hinterlassen und meinen, wir seien dadurch zu Künstler*innen geworden, halten wir uns zugleich an ein klar definiertes Skript, das Stingel geschrieben hat. Auch seine berühmte, 1989 erschienene Publikation «Anleitung» gab detaillierte Anweisungen darüber, wie man seinen eigenen «Stingel» herstellen kann. Mit dieser Geste machte Stingel einerseits ein provokatives und selbstironisches Statement über Autorschaft, Kunst und den Kunstbetrieb, andererseits richtete er den Fokus auf das Machen von Kunst an sich. Kunst wird hergestellt, ist ein Prozess des Fertigens, eine Arbeit wie eine andere auch. So entmystifiziert Stingel die Kunst.
Wie stellt man Kunst her? «Untitled», 2019, Öl auf Leinwand (Foto: John Lehr © Rudolf Stingel)
Die fotorealistischen Arbeiten sind nicht als Konzeptkunst zu verstehen, sondern führen das Herstellen von Bildern vor Augen. Stingels Kunst ist Malerei über Malerei, sie ist ein Kommentar zur Funktion von und zur Geschichte der Malerei. Und zwar wortwörtlich als Schichtung von Farbflächen. Überhaupt ist die Idee der Schicht, der Oberfläche ein wichtiges Thema in der Kunst dieses Radikalen. Wodurch definiert sich ein Bild? Was ist Materie und was ist Interpretation oder Idee? Insofern sind seine Arbeiten auch extrem aktuell, denn sie führen auf sinnlich direkte Art und Weise das Verhältnis von Realität und Abbild, von «eigentlichem» und bearbeitetem Bild vor. Gerade die räumlichen Installationen, die zum Mitmachen auffordern, wandeln sich ja ständig, das Bild steht nicht still, es ist Prozess, Iteration. Auch andere Werkgruppen, wie die Bilder, welche Stingel bewusst in seinem Atelier liegen und dabei die zufälligen Spuren des Künstleralltag sichtbar werden lässt, zielen darauf ab, grundsätzliche Fragen zum Verständnis und zur Wahrnehmung von Kunst, aber auch zu Erinnerung und Vergänglichkeit zu stellen.
Die Ausstellung in Basel macht auch die Räume der Fondation Beyeler neu erfahrbar. So definieren die Arbeiten Stingels das Verhältnis zwischen Architektur und Kunstwerk neu. Jeder der neun Räume ist eine eigene Welt, welche Betrachter*innen in Stingels Universum eintauchen lässt. Und unsere Augen und Sinne öffnet für die Kraft von Farbe als Grundzutat von Kunst. Aber vielleicht verändert sich auch unser Blick auf «Realität» dadurch? Für die Ausstellung hat der Künstler ältere Arbeiten neu adaptiert sowie auch neue Werke geschaffen. Sogar das Restaurant des Museums im angegliederten Bau hat er mit silbernen Celotex-Dämmplatten ausgekleidet. Ist das die Kunst, welche ein heutiges, ein jüngeres Publikum sehen will? Das lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten. Auch wenn es die jüngeren vielleicht instinktiv zu Stingel zieht, ist seine Arbeit nicht per se auf Effekthascherei ausgerichtet. Sie hinterlässt auch nachhaltig ihre Spuren.