Nicht Gestaltung, Gebrauch interessierte Walter Benjamin
Manuel Pestalozzi
5. d’octubre 2017
«Die Mode schreibt das Ritual vor, nach dem der Fetisch Ware verehrt sein will.» Postkarten, teils von Walter Benjamin selbst, illustrieren Zitate aus seinen Schriften. Bild: Archiv Detlev Schöttker
Es gehört quasi zum guten Ton unter Architektinnen und Architekten, wenn man Walter Benjamin «kennt». Eine nähere Auseinandersetzung mit den Schriften dieses Archetypen des gebildeten Flaneurs erlaubt jetzt ein neuer Text- und Bildband.
Der Betrachter
Fast ging er vergessen. Unter den Geistesgrössen Europas ist Walter Benjamin (1892 – 1940) wohl nicht ganz einfach einzuordnen. Aus dem wohlhabenden Berliner Bürgertum stammend, studierte er Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte. Nach seiner Dissertation zu einem kunsthistorischen Thema in Bern machte er sich als freier Schriftsteller und Publizist selbstständig und verfolgte, mit der damaligen Wissens- und Kulturelite Europas bestens vernetzt, verschiedene publizistische Projekte. Fast mittellos musste er vor den Nazis 1933 nach Frankreich flüchten, in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940 nahm er sich im spanischen Portbou, direkt an der französichen Grenze, das Leben.
Das Werk von Walter Benjamin besteht aus zahlreichen Schriften und Fragmenten zu verschiedenen Themen der Geisteswelt und des menschlichen Zusammenlebens. Während seinen Lebzeiten fand es wenig Beachtung. Freunde und Bekannte editierten nach dem Zweiten Weltkrieg dieses Werk, das als «Gesammelte Schriften» veröffentlicht wurde. Laut Jürgen Habermas gehört Benjamin gemäss Wikipedia «zu jenen unübersichtlichen Autoren, deren Werk auf eine disparate Wirkungsgeschichte angelegt ist» und an das man nicht «unbillige Konsistenzanforderungen» stellen sollte.
«Da ist der Eiffelturm – ein reines freies Monument der Technik in sportlichem Geiste …». Die abgebildete Karte schickte Benjamin am 25. März 1926 an Siegfried Kracauer. Bild: Archiv Detlev Schöttker
Städteporträts
Walter Benjamin interessierte sich intensiv für die Wirkung baulicher Eingriffe und die Handlungen und Empfindungen, welche diese auslösen. Davon zeugen zahlreiche Essays, oftmals so genannte Stadtporträts. Sie betreffen einerseits seine Geburtsstadt Berlin, zeugen aber auch von Benjamins ausgedehnter Reisetätigkeit. Von 1927 bis 1940 arbeitete er an seinem Passagen-Werk. Der Titel des unvollendeten philosophisch-literarischen Projekts geht zurück auf die überdachten Ladenpassagen, die ab dem frühen neunzehnten Jahrhundert zunächst in Paris entstanden und für ihn als quintessenziellen Flaneur möglicherweise ein beliebter Zufluchtsort waren.
Die Betrachtungen dieses Nichtarchitekten zu architektonisch relevanten Belangen wurde von der Fachwelt über lange Zeit wenig beachtet. Der deutsche Literatur- und Medienwissenschaftler Dr. Detlev Schöttker vermutet als eine Ursache «die mangelnde Auseinandersetzung mit Fragen des Bauens und Wohnens in allen akademischen Disziplinen mit Ausnahme der Kunstwissenschaft und der Architekturgeschichtsschreibung, die sich wiederum vornehmlich mit Fragen der Gestaltung, nicht des Gebrauchs beschäftigt haben.» Erst in den 1990er-Jahren veränderte sich gemäss Dr. Schöttker die Interessenlage. Über das unvollendete Passagen-Werk fand auch die Architekturszene einen neuen Zugang zu den Schriften von Walter Benjamin – und auch der Bedeutung der Bilder, die das Geschriebene begleiten. Eine Ausstellung im Münchner Architekturmuseum zeigte 2011 die Breite des Interesses, das der Gelehrte architekturrelevanten Themen und Erscheinungen widmete.
An dieser Stelle setzt das vorliegende, von Dr. Detlev Schöttker herausgegebene Buch «Walter Benjamin. Über Städte und Architekturen» an. Es wurde von DOM Publishers in seiner Reihe «Grundlagen» publiziert. Der Umgang mit seinem «Gegenstand» ist nicht wissenschaftlich, vielmehr wollte der Herausgeben ein Lese- und Bilderbuch schaffen, das eine entspannte Annäherung an diesen interessanten und wichtigen Denker und begnadeten Schreiber ermöglicht. Es legt keinen Wert auf Vollständigkeit; in einem Kommentar zu den Texten listet der Herausgeber gewissenhaft auf, was Walter Benjamin sonst noch an Texten produzierte, die für Architektinnen und Architekten noch von Interesse sein könnten. Bei den Abbildungen zog man umgekehrt auch Vorlagen bei, die keinen direkten Zusammenhang mit den Schriften haben, die aber Benjamins textlichen Darstellungen ganz oder teilweise entsprechen. So erhält dessen fragmentarisches Werk in diesem Buch einen Gesamtcharakter, der streng genommen nur noch teilweise seinem Autor zugeschrieben werden kann, dafür aber einen «abgerundeten» Eindruck hinterlässt.
«In Moskau drängt die Ware überall aus den Häusern …». Die Karte zeigt die Einkaufsstrsse Ochotnyj Rjad. Bild: Archiv Detlev Schöttker
Berlin, Paris, der Süden, der Norden
Kurze Reiseandenken stehen am Anfang des Buches. «Eine Architektur, die dem ersten Zuge der Phantasie folgt. Sie ist durch praktische Bedenken ungebrochen», steht da beispielsweise zu Sevillas Alcazar, flankiert von einer alten Postkarte. Es folgen längere Essays, die geographisch geordnet sind in die Hauptkapitel Berlin, Paris, Orte im Süden, Orte im Norden. Die Leserinnen und Leser gehen mit Walter Benjamin auf eine Reise in «Das dämonische Berlin» (mit E.T.A. Hoffmann als Begleiter), natürlich durch die Pariser Passagen, nach San Gimignano, Ibiza, Moskau und Riga. Auch der bekannte Text zum Flaneur fehlt nicht, er ist im Teil Paris zu finden.
Ein letztes Hauptkapitel ist dem «Wohnen in Häusern und Städten» gewidmet, in dem man unter anderem den Bericht «Hochherrschaftlich möblierte Zehnzimmerwohnung» lesen kann, der Walter Benjamin 1926 für die Frankfurter Zeitung verfasste. Er beginnt wie folgt: «Vom Möbelstil der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gibt die einzig zulängliche Darstellung und Analysis zugleich eine gewisse Art von Kriminalromanen, in deren dynamischem Zentrum der Schrecken der Wohnung steht. Die Anordnung der Möbel ist zugleich der Lageplan der tödlichen Fallen und die Zimmerflucht schreibt dem Opfer die Fluchtbahn vor.» Manchmal wünscht man sich, dass ein neuer Walter Benjamin auftaucht und sich die Wohnung des beginnenden 21. Jahrhunderts vornimmt. In deutscher Sprache, nicht auf Englisch!
«Man weiss, wie primitiv das Arbeitszimmer Goethes gewesen ist». – Benjamin schickte diese Ansichtskarte am 6. Juni 1928 an Alfred und Grete Cohn. Bild: Archiv Detlev Schöttker
Detlev Schöttker (Hg.)
Walter Benjamin. Über Städte und Architekturen
210 × 230 mm, 280 Seiten
90 Abbildungen, Softcover
ISBN 978-3-86922-469-5 (deutsch)
EUR 28,00 / CHF 34,80
DOM publishers, Berlin