Ein Besuch in der «Steinkirche» von Cazis
Juho Nyberg
17. de gener 2013
Nichts verweist von aussen auf eine Kirche. (alle Bilder: Tonatiuh Ambrosetti)
Die ungewöhnliche Form der «Steinkirche» von Cazis ist ein starkes Stück Architektur und ein Hinweis auf die wechselvolle Religionsgeschichte Graubündens.
Um den selbstbewussten Auftritt der reformierten Kirche von Cazis zu verstehen, ist eine Rückblende angebracht. Die Religionsgeschichte des Kantons Graubünden trug nämlich schon immer einen wichtigen Teil zu seinem kulturellen Reichtum bei. Als Habsburger Untertanengebiet, auf welches auch Venedig und Frankreich Anspruch erhoben, wurden die heutigen Bündner Täler zur Zeit des Dreissigjährigen Krieges von den Habsburgern verbissen gegen Angriffe der aus den Niederlanden gesteuerten Reformatoren verteidigt. Ziel der Kriegsparteien war die Beherrschung der Nord-Süd- und der Ost-Westrouten. Jürg Jenatsch (1596–1639), bekannt geworden durch den gleichnamigen Roman von C. F. Meyer war eine prägende Figur jener Jahre.
Die heutige Präsenz der reformierten Kirche im katholisch geprägten Graubünden ist stark und selbstbewusst. Ein augenfälliges Manifest der reformierten Kirche ist die in Cazis nach den Entwürfen von Architekt Werner Schmidt entstandene Steinkirche. Die erst 1968 gegründete eigenständige Kirchgemeinde genoss zu Beginn für ihre grösseren Anlässe Gastrecht in der katholischen Pfarrkirche von Thusis. Doch die stetig wachsende Zahl an Gemeindemitgliedern führte 1984 zum Wunsch, eine eigene Kirche zu bauen. Den zehn Jahre später durchgeführten Studienauftrag entschied der Architekt Werner Schmidt für sich. Sein in zwei Elemente gegliederter Entwurf bestand zum einen aus drei miteinander verwachsenen kugelförmigen Volumen, die den Kirchenraum bilden, zum anderen aus einem vorgelagerten länglichen Gebäude für Foyer und Nebenräume.
Der rauhe, vermooste Spritzbeton konstrastiert mit dem gläsernen Anbau.
Zur formalen Unterscheidung von Kirchenbau und Foyer gesellte sich die Art des Bezugs zur Umgebung. Das pavillonartige Foyer aus Holz und Glas sollte lichterfüllt wirken. Der dreigliedrige Kirchenraum sollte nur durch einzelne schlitzförmige Oblichter gezielte Ausblicke in die Umgebung zulassen und ansonsten mit seinen gewölbten und geschlossenen Schalen einen Ort der Besinnung bieten. Neben der ausserordentlichen Form wirkt die Materialisierung prägend auf das äussere Erscheinungsbild der drei Körper: Die Schalen wurden aus Spritzbeton erstellt. Entgegen dem herkömmlichen Konstruktionsbeton wird dieses Material nicht in Formen gegossen, sondern mit Schläuchen auf einen Untergrund oder eine Schalung gespritzt. Die Aufprallenergie sorgt für die Verdichtung des Betons und damit für die Stabilität der Konstruktion. Spritzbeton wird üblicherweise im Tunnelbau oder zur Sicherung von Felshängen verwendet, was einen subtilen Verweis des Baukünstlers auf die prekäre Lage der reformierten Kirche in diesem Umfeld darstellen mag.
Die besondere Form des Entwurfs findet also in der Materialwahl ihre Entsprechung. Dies hatte jedoch seinen Preis: Bereits nach der Vollendung des Rohbaus 1997 mussten die Bauarbeiten eingestellt werden, da die Finanzmittel ausgeschöpft waren. Trotz des provisorischen Zustandes wurde die Kirche in Betrieb genommen. Pfarrer Jörg Wuttge beschreibt den vier Jahre währenden Zustand als «Werkstattkirche», deren unvollendete Atmosphäre genutzt wurde, um mit «hochgekrempelten Ärmeln» für eine Kirche ungewöhnliche Anlässe zu veranstalten wie Kunstsessions oder Rockkonzerte.
Dennoch trennten sich die Wege von Architekt und Kirchgemeinde und für die Vollendung des Bauwerks wurde ein neuer Architekt beigezogen. Unter seiner Leitung konnte die Kirche schliesslich im Juli 2002 in der heutigen Form in Betrieb genommen werden. Der seit Beginn eingeplante Glockenturm existiert nach wie vor nur auf dem Papier.
Die drei Kirchenräume klassisch in Ost-West-Richtung aufgereiht.
Vom Wechsel des Architekten und dem von Schmidt angestrengten und gewonnenen Rechtsstreit wegen Urheberrechtsverletzung ist in der Kirche nichts zu spüren, im Gegenteil. Schmidts gewagte Formgebung und Materialwahl erzielen Wirkung. Aber zu einem Preis: Die Akustik der Räume ist kaum beherrschbar, das nachträgliche Verputzen der Schalen brachte kaum Verbesserung. Und da die Schalen einzig aus dem Spritzbeton bestehen, sind auch die Temperaturschwankungen in den Räumen eine Herausforderung, die noch nicht bewältigt wurde.
Das Raumerlebnis überzeugt trotz allem: Jeder der drei Räume ist aufgrund seiner runden Form ungerichtet, es gibt kein Hinten und Vorne. Erst durch die Aufreihung entsteht eine Axialität in Ost-West-Richtung. Die Schalen weichen zunächst nach aussen zurück, um sich in der Höhe wieder zusammen zu finden. Unweigerlich folgt der Blick des Besuchers der geschwungenen Form nach oben und bleibt bei einem der drei Oblichter hängen. Diese sind in jedem der drei Räume unterschiedlich angeordnet und geben den Blick in verschiedene Richtungen frei. Pfarrer Jörg Wuttge weiss die Architektur liturgisch zu erklären und bespielt die Räume entsprechend: Während im östlich gelegenen Gottesdienstraum das Oblicht das Morgenlicht in die Kirche lässt und den Blick zum Himmel als symbolische Verbindung zu Gott freigibt, schafft der Ausblick im mittleren Raum zum Horizont die Verbindung zwischen himmlischer und irdischer Welt. Der im westlichen «Stein» gelegene Gesellschaftsraum geht mit seinem bis zum Boden gehenden Fenster die Verbindung zum Dorfleben ein.
Der durch die Kirche symbolisierten und von Pfarrer Jörg Wuttge vermittelten Offenheit steht die konservative Haltung der katholischen Kirche gegenüber. Die gute Verständigung zwischen den beiden Kirchen ging über das eingangs erwähnte Gastrecht der Reformierten in der katholischen Kirche Thusis hinaus, auch nach der Errichtung der Kirche Cazis. Zahlreiche gemeinsame Anlässe fanden statt, bis der katholische Pfarrer durch den Bischof vor rund 15 Jahren ultimativ zur Einstellung sämtlicher ökumenischer Bestrebungen aufgefordert wurde. Jürg Jenatschs Nachfahren scheinen wenig von seinem politischen und taktischen Talent geerbt zu haben.