Die Zukunft wieder in die Hand nehmen
Zum fünften Mal findet in Lugano die Biennale svizzera del territorio statt. Inspirierende Beiträge zeigen, wie wir im Angesicht aufeinanderfolgender Krisen neue Hoffnung für die Zukunft schöpfen können.
Fragt man die Menschen in der Schweiz, blicken 82 Prozent pessimistisch in die Zukunft. Dies ist das Ergebnis der neuesten Ausgabe der Jahresstudie «Sicherheit» der ETH. Die fünfte Ausgabe der Biennale svizzera del territorio soll darum ein Aufruf sein, gemeinsam neue Ideen für morgen zu entwickeln. Das Team des Istituto Internazionale di Architettura (i2A), das das grosse Architekturfestival im Tessin organisiert, möchte insbesondere junge Menschen einladen, sich Gedanken über die Zukunft zu machen.
Aus 124 Einreichungen wurden zehn Projekte im Park der Villa Saroli in Lugano umgesetzt, wo sie noch bis zum 30. November zu sehen sind. Sieben weitere wurden bei einem Pecha Kucha präsentiert. Zusätzlich erkundeten Besucherinnen und Besucher bei gemeinsamen Spaziergängen Stadt- und Landschaftsräume, um offen und kritisch über die Zukunft nachzudenken. Die Wanderungen führten zu verschiedenen Stationen in der Stadt, an denen debattiert wurde oder Performances stattfanden.
Wie also können wir als Gesellschaft den Pessimismus abschütteln und neue Hoffnung für die Zukunft schöpfen?
Wer sich noch an die Science-Fiction-Filmtrilogie «Zurück in die Zukunft» erinnert, weiss, dass Zeitreisen bei Nacht beginnen. Mit einer Mischung aus Abenteuer, Humor und Romantik zeigten die Filme, welche Konsequenzen unsere Entscheidungen aus der Vergangenheit für unsere Gegenwart und Zukunft haben. Um gemeinsam die Existenz zu sichern, meistern die Filmhelden Herausforderungen der Vergangenheit, indem sie tollkühne Ideen in die Tat umsetzen und sich selbst treu bleiben – trotz aller Widerstände.
Ähnlich wie in den Filmen wurden auch bei der Biennale, die in Referenz an sie unter dem Motto «Back to the Future» steht, im nächtlichen Lugano mutige Zukunftsvisionen umgesetzt. Unter den zehn Installationen im Park der Villa Saroli ist tatsächlich eine, die mit einem Augenzwinkern zur Zeitreise einlädt: Wer in der alten Telefonzelle der Arbeit «At the tone, time will be…» den Hörer abnimmt, kann in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft horchen.
Die Zeit- und Sinneswahrnehmung wird auch bei «Punto di Rugiada» thematisiert. Zwischen zwei hundertjährigen Tannen sind an feinen Seilen «Soil Portraits» aufgehängt, Bodenchromatografien der Erde unter der Villa Saroli. Die Installation bringt uns die langsamen, zyklischen Prozesse der Natur näher, die in unserer schnelllebigen Welt oft unbemerkt bleiben.
Ein ganz anderes Szenario bot sich derweil in der Biennale-Villa: Beim Happening «Gypsotecno» wurde für eine bessere Zukunft der Vorschlaghammer geschwungen. Die Aktion prangerte die verschwenderische Praxis an, Gipsmodelle bei Wettbewerben einzureichen. Die Teilnehmenden spürten Freude, Frust abzulassen und Modelle zu Gipspulver zu verarbeiten, das wiederverwendet werden kann. Zerstörung bekam für einmal eine sinnvolle Dimension – wenn auch in dem Bewusstsein, dass im Wettbewerbswesen noch mehr verändert werden sollte.
Bei Tag sieht der Park anders aus: Die Aktion «Border-crossing» verwandelt die Grenzmauer des Grünraums in einen Begegnungsort, wo sich Menschen auf beiden Mauerseiten treffen. An auf die Einfriedung gestellten Tischen können sie zusammen essen oder Workshops abhalten. Um das Gefühl von Gemeinschaft geht es auch bei «Bake to the Future», wenn zusammen Brot gebacken wird.
Die temporäre Sitzlandschaft «Looping Wreath» indes ist aus Heu- und Grünabfällen gemacht. Sie verdeutlicht die Verflechtung zwischen den Kreisläufen der Natur und Alltagsprozessen. Hätte die Schafherde der Aktion «Transhumance» die Installation aufgefressen? Augustin Clément, Capucine Fouquin und Arianna Frascoli planten eine Prozession von Tieren durch Lugano, die unsere Vorstellungen von Stadtplanung und einer starren Trennung zwischen menschlichen und tierischen Lebensräumen infrage stellt. Wem gehört die Stadt mit ihren Freiräumen?
Solche Fragestellungen draussen zu untersuchen, hat sich seit Lucius Burckhardts Erfindung der Promenadologie bewährt. Und so gehörten verschiedene Spaziergänge zum Programm der Biennale: Bei «Spunti per il futuro del nostro territorio» wanderten und diskutierten die Teilnehmenden am Ufer des Flusses Cassarate, während bei «Notti Future» städtische Parkplätze in den Fokus rückten, wobei Performances die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmen liessen. Unterwegs in einer Gruppe von über hundert Menschen prägte sich die Stadt- und Landschaftsgestaltung besonders in die Gefühlswelt ein.
Wenn die Helden aus «Zurück in die Zukunft» wie 82 Prozent der Menschen hierzulande nicht mehr an eine bessere Zukunft geglaubt hätten, wäre der Film bereits nach dem ersten Dialog der Hauptakteure vorbei gewesen. Glücklicherweise waren sie wie die Protagonisten der fünften Biennale del territorio weniger pessimistisch. Beim grossen Pecha Kucha hinterfragte das Kollektiv Everyone Is Into Weird Stuff in seinem Kurzvortrag «Fake Tales of Ticino» auf humorvolle Weise, wie sich das kollektive Bewusstsein durch den Tourismus verändert, während die Mobilität in «Highwaytopia» und das Reisen in «Moving Landscapes» als Chance präsentiert wurden, Menschen zum Handeln zu bewegen. Die sieben Präsentationen sowie die anschliessenden Diskussionsrunden nahmen die Themen des kollektiven Erlebens und Erinnerns sowie des Umgangs mit Verlust und Transformation von Gemeinschaften, Räumen und Landschaften auf. Sie zeigten auch, welche Rolle Digitalisierungsprozesse dabei spielen.
Alle Biennale-Beiträge, egal ob hoffnungsvoll oder kritisch, sind als Aufrufe zu verstehen, sich auf die Kernaufgabe der Gestaltung zurückzubesinnen, nämlich sich mit der Zukunft zu befassen und gemeinsam Alternativen zur Gegenwart zu entwerfen. Entstanden ist eine inspirierende und ermutigende Mischung aus künstlerischen Positionen, gesellschaftlichem Engagement und konkreten Ideen.
Die letzte Station des «Notti Future»-Nachtspaziergangs war ein Parkplatz im Innenhof eines anonymen Häuserblocks. Stadtgeräusche rückten in den Hintergrund, auf Italienisch, Englisch, Französisch und Deutsch wunderte sich das Publikum: «Was kommt zuletzt?» Zuerst leise, dann immer klarer hörte man ein Geigenspiel. Statt eines Schlusswortes verneigte sich die Performance-Gruppe. Nach dem Applaus blieb der Balkon im Innenhof beleuchtet, aber leer. Dunkelheit und Stille der Nacht warfen das Licht zurück auf Lugano, seine Stadtbewohner und das Biennale-Publikum. Die Botschaft: Hoffnung beginnt bei uns selbst.