Die Vollendung eines Bauwerks nach 121 Jahren

Susanna Koeberle
21. de setembre 2023
Das vollendete Kunstwerk sieht exakt so aus wie auf den Renderings. Das komplexe Unterfangen ist Frucht einer gelungenen Teamarbeit. (Foto: © Studio Renée Levi)

Tilo ist ein Frauenname, trotz der Endung auf «o» – und auch der Name eines Kunstwerks des Studio Renée Levi. «Tilo» ist nicht irgendein Kunstwerk, sondern eine gigantische Kunst-am-Bau-Arbeit am Tympanon des Parlamentsgebäudes in Bern. Anlässlich des 175-Jahr-Jubiläums der Schweizer Bundesverfassung am 12. September wurde es um Punkt 18.48 Uhr feierlich enthüllt. Die Arbeit daran begann allerdings schon viel früher. Dass dieses Kunstwerk erst jetzt entstand, liegt an einer architektonischen Besonderheit des markanten Bauwerks. Der Architekt Hans Wilhelm Auer (1847–1906) geizte zwar bei seinem Entwurf nicht mit künstlerischer Ausschmückung, gerade im Innenraum; doch das Tympanon, die dreieckige Giebelfläche, die man auch von Tempelbauten kennt, blieb aus unbekannten Gründen leer. 

Ein Jahr nach der Einweihung des Parlamentsgebäudes im Jahr 1902 wurde ein Kunstwettbewerb ausgeschrieben, doch auch dann passierte nichts. Über 100 Jahre später schrieb die eigens zu diesem Zweck zusammengestellte Kunstkommission Parlamentsgebäude (KKPG) einen Wettbewerb aus, zu dem 15 Schweizer Künstler*innen eingeladen wurden. Dreizehn Kunstschaffende nahmen die Herausforderung an und reichten einen Vorschlag ein. Das Projekt von Renée Levi und ihrem Partner Marcel Schmid überzeugte die Jury und erhielt Anfang 2022 den definitiven Zuschlag für die Realisierung. Die Idee: Ein riesiges Mosaik bestehend aus 246 Keramikkacheln – so viele wie das Parlament Sitze hat. Damit findet das Bauwerk durch eine stark symbolisch aufgeladene Arbeit seine Vollendung. «Tilo» fächert sowohl optisch als auch ideell eine Vielzahl von Facetten auf. Dass das Duo eine grosse Erfahrung in der Umsetzung von ortsspezifischen Arbeiten besitzt, trug ohne Zweifel zum Gelingen dieses Projekts bei.

Montage der 246 Keramikkacheln (Foto: © Studio Renée Levi)

Im Atelier von Renée Levi und Marcel Schmid wimmelt es bei unserem Besuch gerade von grossformatigen Malereien, die bald in der Galerie von Philipp Zollinger ausgestellt werden sollen. Die in der Türkei geborene Basler Malerin arbeitet bei vielen Projekten eng mit ihrem Studio- und Lebenspartner Marcel Schmid zusammen, auch bei «Tilo» war das der Fall. Renée Levi, die ausgebildete Architektin ist, ist vor allem für ihre Malerei bekannt, doch das Studio entschied sich schliesslich für einen neuen Weg. Zu Beginn standen auch andere Materialien im Raum, etwa Kupfer oder Glas. 

All diese materiellen Überlegungen mussten mit den denkmalpflegerischen Anforderungen kompatibel sein. Eine derart komplexe Aufgabenstellung bedarf eines durchdachten Konzepts, es geht um weit mehr als «nur» um die Kunst. «Die Parameter waren relativ eng», sagt Marcel Schmid. Zum einen ging es um das Schärfen des Konzepts an sich, zum anderen um seine physische Umsetzung. Bei beiden Prozessen standen die zwei Kunstschaffenden in einem stetigen Austausch miteinander, später auch mit den involvierten Spezialist*innen. 

Die Kacheln wurden bei Swisskeramik in Sarnen handwerklich hergestellt. (Foto: © Studio Renée Levi)

Bei «Tilo» waren das die Mitarbeiter*innen der Sarner Manufaktur Swisskeramik, welche die 246 Kacheln handwerklich herstellten. Die Produktion von «Tilo» war nicht nur wegen der schieren Menge an Kacheln eine besondere Herausforderung; auch Stabilität und Wetterbeständigkeit waren etwa ein Thema. Schmid und Levi wollten auf die Gesteinssorten des Bauwerks Bezug nehmen, denn entsprechend der Idee von Hans Wilhelm Auer kamen beim Gebäude Steine aus allen damaligen Schweizer Steinbrüchen zum Einsatz. Der Farbton des Mosaiks sollte exakt die typisch graugrünlichen Farbschattierungen der Sandsteinfassade aufnehmen und zugleich einen speziellen Glanz haben. 

Die Manufaktur verwendete einen eigens entwickelten hell brennenden Steinzeugton; auch die Glasur ist eine Spezialanfertigung. Im Vorfeld wurden für die Kachelformen Modelle erstellt. Die Kacheln wiederum sind unterschiedlich gerillt, je nach Lichteinfall verändert sich also ihre Farbigkeit. «Jede Rille ist ein Gedanke, ist ein Mensch», sagt Renée Levi und betont damit die Vielfalt der möglichen Lesarten. Mit der Vielzahl der Formen und ihrer chaotisch anmutenden, aber präzis geplanten Anordnung wollten Levi und Schmid bewusst die Symmetrie des Baus brechen. Gleichzeitig reagierten sie respektvoll auf die bestehende Geometrie sowie auf die vorhandene Materialität. Das geschieht etwa durch die fünf unterschiedlichen Rillenwinkel. Das Spiel der Fugen und Rillenausrichtungen hat fast etwas von einem Kaleidoskop. Auch inhaltlich nimmt die Arbeit das Thema Diversität auf. 

Der grosse Moment: Das Kunstwerk wird enthüllt. (Foto: © Parlamentsdienste 3003 Bern / Rob Lewis)

Viele Werke von Renée Levi tragen Frauennamen und würdigen damit die Arbeit (ja, dazu gehört auch Care-Arbeit) von Frauen. Doch warum gerade Tilo? Der Titel ist eine Hommage an Tilo Frey (1923–2008), die als eine der ersten zwölf Frauen und als erste schwarze Frau 1971, direkt nach dem Inkrafttreten des Frauenstimm- und -wahlrechts, in den Nationalrat gewählt wurde. Die Ambivalenz des Namens Tilo, der durchaus auch männlich sein könnte, kennt die Künstlerin von ihrem eigenen Namen. Damit spielt sie bewusst. Sogar das Gestische, das ihrer Malerei eigen ist, findet in dieser Kunst-am-Bau-Arbeit seinen Widerhall. Dem Parlamentsgebäude nähert man sich selten frontal: Der Aspekt der Interaktion zwischen dem Werk und den Betrachtenden war ebenso Teil der Überlegungen der beiden Kunstschaffenden. 

Wie Levis Malerei ist auch «Tilo» kein statisches Kunstwerk, sondern wird nie zwei Mal gleich wahrgenommen, dazu tragen auch die sich laufend verändernden Lichtstimmungen bei. Nachts, wenn die Arbeit beleuchtet wird, mögen vorbeigehende Menschen merken, dass am Bundeshaus etwas neu ist, doch tagsüber könnte man «Tilo» glatt übersehen. Das symbolträchtige Kunstwerk soll lange Bestand haben, die Gemüter erfreuen und anregen sowie die Menschen zum Nachdenken bringen. Obschon es sich bei «Tilo» um ein autonomes Werk handelt, sind das Haus und sein neuer «Schmuck» längst in ein Gespräch miteinander getreten. Das ist insofern wichtig, als dass der Dialog auch die Basis der Demokratie ist.

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