Raum, der gesund macht

Thomas Geuder
7. 一月 2014
In der Berliner Charité sind zwei Zimmer mit vier Betten entstanden, in denen die Raumgestaltung die Genesung der Patienten unterstützen soll. ( Foto: Tobias Hein / GRAFT )

Thomas Geuder: Das Architekturbüro «GRAFT» ist vielen bekannt durch Arbeiten, die mit dem architektonisch Umerwarteten spielen, wie auch durch soziale Projekte, etwa das Shotgun-Haus im von Hurricane Katrina verwüsteten New Orleans oder der Solarkiosk (wir berichteten darüber in einem zweiteiligen Interview hier und hier). Wie kam es nun zur «Parametrischen (T)Raumgestaltung»?
Thomas Willemeit: Parametrische (T)Raumgestaltung ist ein Forschungsprojekt zur Bekämpfung von Angst, Desorientierung und Stress auf Intensivstationen. Anästhesisten und Stationsärzte stellen seit Jahren die negativen Einflüsse steriler und rein funktionaler Räumlichkeiten fest. Insbesondere das Gefühl vollkommener Abhängigkeit und ein Mangel an Privatsphäre, aber auch fehlendes Tageslicht und eine aggressive Akustik können negativen Einfluss auf den Heilungsprozess des Patienten haben. Diese psychische und räumliche Ausnahmesituation ist die Basis des Forschungsprojektes: Nach dreijähriger Entwicklungsarbeit hat GRAFT mit der Charité zwei Zimmer der Intensivstation 8i auf dem Virchow Campus der Charité Berlin fertiggestellt. Für den Mediencontent zeichnet sich die Firma Art+Com verantwortlich, gefördert wurde es durch das Bundeswirtschaftsministerium.

Welcher theoretische Ansatz steckt hinter dem Projekt?
In der Beschäftigung mit der Ausnahmesituation «Intensivstation» geht es darum, eine weitgehend aus dem architektonischen Diskurs verdrängte Raumerfahrung auf ihren Einfluss auf Wahrnehmung, Psyche, Heilungsverlauf und Wohlbefinden hin zu untersuchen. Nach einer ersten Phase der Analyse aller wesentlichen Einflussparameter auf messbare Zustandsdaten der Patienten – wie Lichtverhältnisse, Akustik, Präsenz von Geräten, Pflegeabläufe, allgemeine Wahrnehmung des Zimmers und insbesondere der Oberflächen im Blickfeld des Patienten (Decke und gegenüber liegende Wand) – wurden diese Zimmer aus vollkommen neuem Blickwinkel gestaltet.

Statt weisser Decken sieht der Patient beim Blick nach oben Licht-Paneele, die ihre Farbe beliebig ändern können. ( Foto: Tobias Hein / GRAFT )

In welche Architektur haben Sie dies dann übersetzt? Welche Rollen spielen etwa das Licht, die Materialität und die Form?
Im Innenraumkonzept sorgen unerwartet weiche und fliessende Formen sowie die Verwendung von grossformatigen Holzoberflächen und dunklen Fussböden für eine wohnliche und auf Intensivstationen bisher ungekannte Atmosphäre. Indirektes Licht und ein individuell steuerbares Lichtkonzept ermöglichen eine angenehme Behaglichkeit. Ein besonderes Augenmerk liegt auf dem optischen Verschwinden technischer Geräte und Versorgungsleitungen im Bereich hinter dem Kopf des Patienten. Ein Patienten-Lift erleichtert die Mobilität der Patienten, während individuell nutzbare Möbel und Sichtschutz für die wichtige Privatsphäre sorgen. Ausstattung und Betreuungssituation der Zimmer erinnern trotz „state of the art“-Technologie eher an ein Hotel, als an ein Krankenhaus. Alle Aspekte dieses einzigartigen Konzepts wurden in enger Abstimmung mit Ärzten und Pflegepersonal der Charité, vorrangig jedoch aus der Patientenperspektive entwickelt. Ein grossformatiger LED-Screen im Blickfeld des Patienten stellt daher die zentrale Komponente des Konzepts dar. Dieser Bildschirm wurde in enger Abstimmung mit Philips entwickelt und ermöglicht eine Tageslicht unterstützende Beleuchtung sowie das Abspielen ruhiger und sich langsam verändernder Bilder, die zudem für eine dringend notwendige Abwechslung sorgen. In Kombination mit einem iPad kann der Screen zur Unterstützung kognitiver und physischer Trainingsprogramme genutzt werden. Störgeräusche und Alarmsignale wurden gedämpft oder in das zentral angeordnete Beobachtungszimmer verlegt.

Der Patient oder die Patientin ist aufgefordert, sich seinen Bettplatz selbst zu gestalten, indem er die Bespielung des Screens steuert. Wie genau funktioniert das bzw. welche Technik steckt dahinter?
Patienten können direkt über ein iPad den Content auf dem Screen steuern, zum Beispiel Lichtpunkte bewegen und sehr einfache spielerische Bewegungen steuern. Auch Ärzte und Pflegekräfte können diese Funktion intensiv nutzen, um die kognitiven Fähigkeiten oder Konzentrationsfähigkeit ihrer Patienten zu testen. Die so ermittelten Diagnosen sollen Ärzte und Pflege im Rahmen des Forschungsprojektes in die Lage versetzen, individuelle und zielgerichtete Licht- und Content-Bespielung auf dem Screen zu ermöglichen. Am Ende der Wegstrecke könnte eine auf den Heilungsverlauf des Patienten abgestimmte Mischung aus Tageslichtunterstützung, interaktiver Behandlungshilfe sowie Ablenkung und Beruhigung stehen.

Gibt es bereits erste Erfahrungsberichte von Ärzten und Patienten?
Das Pilotprojekt wurde letzten Oktober fertiggestellt und ist weltweit in der Intensivmedizin ohne vergleichbares Beispiel. In einer nun folgenden Forschungsphase, an der u.a. Abteilungen der Charité und der TU beteiligt sind, werden die tatsächlichen Effekte des Konzepts auf Wohlbefinden und Heilungsverlauf evaluiert.

Nicht im Blickfeld des Patienten, sondern aufgeräumt an der Rückwand: Sämtliche medizinischen Apparaturen. ( Foto: Tobias Hein / GRAFT )

Werfen wir noch einen allgemeinen Blick auf Architektur und Raum: Durch welche Parameter wird Ihrer Meinung nach ein Raum charakterisiert? Was bedeutet für Sie «Raum»?
Wenn alle sichtbaren Komponenten wie Wände, Decken, Materialien, Objekte usw. für die Architektur das sind, was der hörbare Rhythmus und Klang in der Musik sind, dann ist «Raum» in der Architektur das, was in der Musik die «Melodie» ist. Der Raum ist der Träger der unbewusst und bewusst wahrgenommenen Atmosphäre, des «Erzählerischen» in der Architektur. Raum wird «erlebt», nicht berechnet. Daher ist es für ein Raumkonzept essentiell, eine Vorstellung vom Erlebnis und der Szenographie eines Raumes zu haben und nicht nur eine begründbare Logik der Fügung von Komponenten zu suchen. Diese muss es geben, aber der Wert des Raumes liegt in seiner erlebbaren Qualität. Alle Ebenen der Wahrnehmung spielen dabei zusammen: die visuelle Erlebbarkeit von Raumgrenzen unter dem Licht, die Materialität und deren Qualität sowie die Erweiterung und der Ausblick aus einem definierten Raum heraus, die Ahnung und die Neugier auf das «dahinter». Gleichzeitig hören wir Raum, die Akustik spielt eine grosse Rolle in der Wahrnehmung von Privatsphäre, genauso wie die Raumtemperatur und die fühlbare Qualität der Oberflächen, mit denen wir in Berührung kommen. Von grosser Bedeutung ist aber auch, in welchem Masse die Architektur und der Raum unsere Begegnungen und die Erfahrung von Privatheit und Gemeinsamkeit unterstützen.

Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach der Mensch in diesem Verständnis von Raum?
Architektur wird für den Menschen gemacht, erst der Mensch schafft im Erlebnis von Raum individuelle Choreografien und Beziehungen zum Raum und verbindet damit das Zeitliche und das Räumliche, die beiden simultanen, aber unvereinbaren Grundebenen der menschlichen atmosphärischen Wahrnehmung.

Über 15.000 RGB-LEDs erstrecken sich von Kopf bis Fuss des Patienten und prägen so nahezu sein gesamtes Blickfeld. So können etwa der natürliche Tag-Nacht-Rhythmus des Patienten unterstützt und der gesunde Schlaf gefördert werden. ( Foto: Tobias Hein / GRAFT )
Intensivstation früher und (vielleicht) in Zukunft: Die Raumatmosphäre und die Lichtstimmung im Raum sollen künftig akuten Bewusstseinsstörungen, sogenannten Delirien, entgegenwirken. ( Foto: Tobias Hein / GRAFT )
Die Steuerung der Lichtdecken erfolgt individuell per Tablet – auf Wunsch können sogar die Online-Daten des Deutschen Wetterdienstes herangezogen werden. ( Foto: Philips )
Vielfältige Bespielungen sind möglich: Der Kreativität sind dank der farbigen LEDs auf den 2,40 m breiten und bis zu 7 m langen Screens keine Grenzen gesetzt. ( Quelle: © ART+COM )
Grundriss
Schnitt
Im zentralen Personalraum lassen sich die Patienten auf allen vier Betten überwachen, ohne sie zu stören. ( Foto: Tobias Hein / GRAFT )

Neben den RGB-LEDs sind auch Hochleistungsleuchtdioden mit warm- und kaltweisser Lichtfarbe integriert, die (rein theoretisch) in der Lage sind, Beleuchtungsstärken von über 20.000 Lux zu erzeugen. ( Foto: Tobias Hein / GRAFT )
Die erzeugbaren Beleuchtungsstärken sind vergleichbar mit den Licht unter freiem Himmel. Freilich werden hier im Innenraum nur bis 1.700 Lux verwendet. ( Foto: Tobias Hein / GRAFT )
Forschungsprojekt
Parametrische (T)Raumgestaltung
Berlin, D

Technologiepartner
Philips Deutschland GmbH
Hamburg, D

Hersteller-Kompetenz
Sonderanfertigung grossformatiger LED-Screen
Umgebungsbeleuchtung

Partner des Forschungsprojekts
GRAFT GmbH
Gesellschaft von Architekten
Berlin, D

Charité - Universitätsmedizin Berlin
Berlin, D

Charité Facility Management CFM
Berlin, D

ART+COM AG
Berlin, D

Planungspartner
Architekten des CFM

Planungsbegleitung Beleuchtung
LichtKunstLicht
Bonn, D

Projektteam Graft
Thomas Willemeit, Lars Krückeberg, Wolfram Putz, Annette Finke, Denis Hegic, Dorothea von Rotberg, Ruxandra Osiac, David Schwarz

Innenausbau
von Bergh
Dernbach, D

Dank an die Firmen
Fresenius, Ophardt, Dimedtec, Guldmann und Barrisol

Fertigstellung
2013

Fotografie
Tobias Hein
GRAFT
Philips
ART+COM


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