Wem gehört Venedig?
Manuel Pestalozzi
8. 二月 2017
Die Touristen kommen – die Einheimischen wandern ab. Venedig ist als Stadtorganismus faktisch tot. Bild SRF/Reuters.
Der Massentourismus setzt schönen historischen Städten zu. Die UNESCO und die ansässige Bevölkerung sind entsetzt. Aber was tun? Die Mumifizierung kann keine Lösung sein.
Radio SRF 2 Kultur widmete der Serenissima in Kultur Aktuell kürzlich einen Beitrag. Die Weltkulturorganisation UNESCO droht demnach, sie von der Liste der Weltkulturgüter zu streichen. Rund 30 Millionen Besucher pro Jahr seien zu viele, sagen die Kulturexpertinnen und -experten. Damit haben sie wohl Recht: Venedig wurde nicht für nomadisierende Schwärme geplant. Die aktuelle Erscheinung des beliebten Reiseziels ist seiner Karriere als mächtiger Stadtstaat zu verdanken, dessen Niedergang vor Jahrhunderten seinen Anfang nahm. Venedig ist überholt.
Wie vielleicht kein anderer Ort repräsentiert die Lagunenstadt jenes Dilemma, vor das historische Bausubstanz oder in diesem Fall eine faktisch abgestorbene Siedlungseinheit die Nachwelt stellt. Als Kulturgut enthält sie einmalige Werte, funktional ist sie nicht mehr als ein Resort und ein Kongresszentrum. Es ist davon auszugehen, das die Gäste oft nicht besonders kunstsinnig sind und die Stadt als das betrachten, was eine moderne Stadt eigentlich sein sollte: ein Gebrauchsgegenstand. Möglicherweise schwebt der UNESCO wie ähnlich Gesinnten vor, diesen Zustand zu ändern, die Stadt zum Ausstellungsobjekt zu deklarieren und wie im Louvre in Paris das Publikum zentral zu sammeln und gegen Eintritt dosiert vorzulassen. Damit hätte Venedig als autonome Entität endgültig abgedankt. Eine Gated Community wäre die Folge, der öffentliche Stadtraum würde zum exklusiven Museumshof, der – in Analogie zu Museumspalästen wie dem Guggenheim Museum Bilbao – von Grossfirmen für Events gemietet werden könnte.
Heute ist Venedig trotz allem noch immer eine «richtige» Stadt mit einem Bürgermeister. Luigi Brugnaro heisst er, Unternehmer ist er. Gemäss dem SRF-Beitrag ist er davon überzeugt, dass die touristische Ausrichtung seiner Stadt Wohlstand für alle bedeutet. Brugnaro wolle nicht erkennen, dass diese Entwicklung aus der Stadt Venedig eine Art touristischen Freizeitpark mache, wird geklagt. Aber kann man einen Bürgermeister zum Verwalter eines kulturellen Erbes degradieren? Wäre es nicht ehrlicher oder sogar ehrenvoller, der Geschichte ihren Lauf zu lassen und es in Kauf zu nehmen, dass der Mensch von heute auch an diesem Ort seine Spuren hinterlässt, und seien es Spuren der Zerstörung? Gut möglich, dass deutliche Zeichen der Überbeanspruchung oder sogar des Zerfalls das beste Mittel sind, die Magnetwirkung der Sehenswürdigkeit zu reduzieren und die grossen Horden vermehrt fernzuhalten – und dass sich gerade dadurch die historischen Werte der Stadt am ehesten retten lassen.