Grazie Luigi
Elias Baumgarten
31. 十二月 2021
Illustration: World-Architects.com
Luigi Snozzi ist tot. Das Tessin und die ganze Schweiz dürfen stolz auf ihn sein und dankbar für seine Arbeit. Schön wäre, würden viele (junge) Architekt*innen ihm nacheifern. Denn wir brauchen gerade jetzt Gestalter*innen von seinem Format.
«Baust Du einen Weg, ein Haus, ein Quartier, dann denke an die Stadt!»
Viele verwechseln heute eine Haltung und klare Prinzipien zu haben damit, ein hysterischer Schreihals zu sein. Öffentliches Poltern wird zuweilen bereits als Leistung und Ausdruck eines kritischen Geistes angesehen. Aus ganz anderem Holz war Luigi Snozzi geschnitzt. Der sympathisch-humorvolle Tessiner, der für sein Leben gern rauchte, war alles, was zwischenzeitlich leider sehr selten geworden ist: Anderen begegnete er immer respektvoll, Allüren waren ihm fremd. Seine Meinung sagte der erklärte Sozialist frei heraus und bestimmt. Er drückte sich intellektuell-präzise aus, seine Worte wählte er sorgfältig, sodass ihn alle verstehen konnten. Es kümmerte ihn nicht, ob ihm daraus Nachteile erwuchsen oder er gar Auftraggeber verärgerte. Das Wichtigste aber: Während die gebauten Projekte vieler (linker) Avantgardisten seiner Generation zu ihrer vormals mit markigen Worten artikulierten Haltung nicht recht passen wollten oder sie diese gar verrieten, blieb Snozzi seinen Idealen in bewundernswerter Weise treu. Obgleich er wohl auch deshalb weniger baute als andere, ermöglichte seine Beharrlichkeit Leistungen, die nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Das bekannteste Beispiel ist seine Revitalisierung des einst hoffnungslos zersiedelten Tessiner Dorfes Monte Carasso, dem in den 1970er-Jahren ein doch recht zweifelhafter Ruf anhaftete: Man sagte sich damals im Südkanton, nur dumme und arme Menschen würden dort wohnen. Heute, nach Jahrzehnten geduldiger Arbeit, ist Monte Carasso kaum wiederzuerkennen und einer der attraktivsten und beliebtesten Orte in der Gegend; Snozzi wurde zum Ehrenbürger erklärt. Kann Architektur die Menschen also am Ende doch verändern?
Unsere Redaktorin Susanna Koeberle im Gespräch mit Luigi Snozzi (Foto © Bundesamt für Kultur)
«Jeder Eingriff bedingt eine Zerstörung, zerstöre mit Verstand.»
Nachdem Snozzi, ausgebildet an der ETH Zürich, 1958 ein eigenes Büro in Locarno gegründet und von 1962 bis 1971 mit Livio Vacchini (1933–2007) zusammengearbeitet hatte, wurde er in den 1970er-Jahren weit über das Tessin hinaus bekannt. Entscheidend trug dazu die Ausstellung «Tendenzen. Neuere Architektur im Tessin» (1975) des Instituts gta der ETH Zürich bei, die Snozzis herausragende Stellung innerhalb der Tessiner Architekturszene aufzeigte und würdigte – auch wenn Snozzi selbst den Titel kritisch sah und überhaupt ein kompliziertes Verhältnis zur ETHZ hatte, wie er Hochparterre-Redaktor Ivo Bösch in einem spannenden, heiteren und persönlichen Interview anlässlich seines achtzigsten Geburtstags sagte.
Obwohl Snozzi vor allem in der Schweiz und besonders in seinem Heimatkanton, dem er zeitlebens stark verbunden blieb, baute, wurde seine Arbeit auch im Ausland rezipiert und wertgeschätzt. In den 1980er-Jahren war er Vorsitzender des Gestaltungsbeirats von Salzburg. 1983 wurde ihm die Ehrenmitgliedschaft des Bundes Deutscher Architektinnen und Architekten (BDA) verliehen, 2013 die Ehrendoktorwürde der TU München. Für die deutsche Stadt Braunschweig entwickelte er ein manifestartiges Stadtkonzept. Ich erinnere mich gut, dass er während meines Studiums in Österreich einer der wenigen Schweizer Architekten war, deren Wirken in den Vorlesungen ausführlich und voll Hochachtung besprochen wurde.
«Es gibt nichts zu erfinden, alles ist wieder zu er-finden.»
Luigi Snozzi war nicht nur ein hervorragender Gestalter und eine beeindruckende Persönlichkeit, sondern auch einer der wichtigsten und einflussreichsten Schweizer Architekturlehrer und -theoretiker der letzten fünfzig Jahre. Nachdem er bereits Gastdozent an der ETH Zürich gewesen war, wurde er 1985 Professor an der EPF Lausanne. Seine Student*innen, zu denen Roger Diener, Jacques Herzog und Pierre de Meuron gehörten, wollte er zu intellektuellen, ethisch handelnden Menschen erziehen. Denn ein Architekt ohne Ethik und Moral, sagte er anlässlich der Verleihung des Prix Meret Oppenheim 2018, sei eine Gefahr, eine Gefahr für die Allgemeinheit. Diese Position ist heute aktuell wie lange nicht. Angesichts der grossen Herausforderungen, die uns mit dem Klimawandel, der Digitalisierung, der Überalterung unserer Gesellschaft, aber beispielsweise auch dem hohen Siedlungsdruck auf unsere historisch wertvollen Dörfer und Städte in den nächsten Jahren erwarten, braucht es dringend Architekt*innen von Snozzis Format, politische Architekt*innen, die sich nicht verbiegen lassen und ihren Überzeugungen treu bleiben.